Der Maibaum von Detlev von Liliencron

Wir liebten uns. Ich saß an deinem Bette
und sah auf deinen todesmatten Mund.
Dein Auge suchte mich an irrer Stätte:
Hörst du den Sensenschnitt im Wiesengrund?
 
Und Pfingsten rings. Die Stadt war ausgeflogen
in hellen Kleidern und im Frühlingshut.
Wir waren um den schönsten Tag betrogen,
o Tag, sei gnädig ihrer Fieberglut.
 
Zu deinem Haupte bot, zu deinen Füßen
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bog sich ein grünes Birkenbäumchen vor,
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sie wollten dich vom heiligen Leben grüßen,
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ein letzter Gruß dir sein am schwarzen Tor.
 
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Ich hatte gestern sie für dich geschnitten,
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an einer Stelle, die dir wohlbekannt,
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zu der wir ausgelassen oft geschritten,
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an der wir oft gesessen, Hand in Hand.
 
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An jenem Ort steht eine alte Weide,
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vor Neid und Sonne unsre Schützerin,
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da ist es still, und überall die Haide,
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am Ginster zittert die Libelle hin.
 
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Ein Wasser schwatzt sich selig durchs Gelände,
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ein reifer Roggenstrich schließt ab nach Süd,
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da stützt Natur die Stirne in die Hände
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und ruht sich aus, von ihrer Arbeit müd.
 
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Weiß du den Abend noch, wir saßen lange,
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ein nahendes Gewitter hielt uns fest
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an unserm Weidenbusch, du fragtest bange,
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es klang so zag: und wenn du mich verläßt?
 
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Sieh zu mir auf, beschirmt von Birkenzweigen,
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ich war dir treu, wir haben uns geglaubt.
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Aus Wüsten zieht auf Wolken her das Schweigen,
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die Sense sirrt und sterbend sinkt dein Haupt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.5 KB)

Details zum Gedicht „Der Maibaum“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
32
Anzahl Wörter
225
Entstehungsjahr
1844 - 1909
Epoche
Naturalismus

Gedicht-Analyse

Das zu interpretierende Gedicht heißt „Der Maibaum“ und wurde von Detlev von Liliencron verfasst, einem Lyriker der Epoche des deutschen Realismus im späten 19. Jahrhundert. Auf den ersten Blick fällt der melancholische und traurige Ton des Gedichts auf, der sich durch das gesamte Werk zieht.

Gleich zu Beginn wird dem Leser klar, dass das lyrische Ich und die angesprochene Person offenbar eine tiefe innige Liebe verbindet. Es wird jedoch schnell ersichtlich, dass etwas Unheilvolles passiert ist: Im zweiten Vers wird der „todesmatte Mund“ der geliebten Person erwähnt und erweckt dadurch den Eindruck eines Todesfalls. Die lyrische Stimme beschreibt dann, wie es am Bett der Person wacht. Während die Stadt und die Welt außerhalb des Krankenzimmers das Pfingstfest feiern, verweilt das lyrische Ich bei der Kranken.

Dann werden Erinnerungen an gemeinsame Zeiten beschrieben: Sie haben oft den Ort besucht, an dem das lyrische Ich einen Birkenzweig für die geliebte Person geschnitten hat. Die lille Beschreibung des Ortes - eine Wiese mit einer alten Weide, umgeben von Heide und einem plätschernden Wasser – ist idyllisch und wirkt wie ein Rückzugsort, ein Ort der Ruhe und Nähe. Dort hat die geliebte Person einmal die bange Frage gestellt, was passieren würde, wenn das lyrische Ich sie verlässt.

Das Gedicht endet mit dem tragischen Tod der geliebten Person. Die wiederholte Symbolik der Sense, die durch die Wiesen gleitet, ist ein klares Anzeichen für den nahenden Tod. In den letzten Versen stirbt die geliebte Person, und das lyrische Ich beteuert seine Treue und Liebe.

Das Gedicht „Der Maibaum“ hat eine durchgehend regelmäßige Form: Es besteht aus acht Strophen mit jeweils vier Versen. Die Sprache des Gedichts ist schlicht und doch bildhaft und eindringlich. Besondere Symbolik erschließt sich durch die wiederholte Erwähnung des Maibaums und der Sense, die sowohl für den Zyklus aus Leben und Tod stehen als auch für Liebe und Verlust. Die verwendete Symbolik und Metaphorik, sowie der zwischen intensiven Naturbeschreibungen und tiefem menschlichem Leid wechselnde Fokus, sind charakteristisch für die Lyrik Detlev von Liliencrons und machen „Der Maibaum“ zu einem emotional dichten und bewegenden Gedicht.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der Maibaum“ des Autors Detlev von Liliencron. Der Autor Detlev von Liliencron wurde 1844 in Kiel geboren. Im Zeitraum zwischen 1860 und 1909 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Naturalismus zuordnen. Der Schriftsteller Liliencron ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 32 Versen mit insgesamt 8 Strophen und umfasst dabei 225 Worte. Die Gedichte „Schöne Junitage“, „Herbst“ und „Dorfkirche im Sommer“ sind weitere Werke des Autors Detlev von Liliencron. Zum Autor des Gedichtes „Der Maibaum“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 63 Gedichte vor.

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