Zweites Selbstgespräch von Johann Gottfried Herder

Wer bin ich? Alles erwacht in mir! mein Geist!
Höhen - Tiefen! - ich schaudre! - die nur Gott durchmißt!
Dunkel liegt mein Grund! - Leidenschaft durchfleußt
Ihn unendlich und braust! - braust! - Geist, Du bist
Eine Welt, ein All, ein Gott, Ich!
Mensch fühl' ich mich, und beten vor mir an?
Nein! aufrecht stehn und denken will ich mich!
Du jeder mein Gedank, des stärksten Selbsttriebs Blut
Und jede Nerv sei Kraft und jede Ader Gluth,
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Daß ich mich fühlen, fassen, lenken kann!
 
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Es schläft in mir! Im Schooß des Chaos schläft
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Welche Gedankenwelt!
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Um einen Punkt dehnt ein unendlich Feld
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Sich in der Ferne Schatten. Es schläft
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Um mein Jetzt die Asche von Vergangen,
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In ihr der Keim der ganzen Künftigkeit.
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Wie keimt im Todtenkrug die Asche von Vergangen
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Zum Keim der Künftigkeit!
 
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Wolkenhoch erwach' ich am Segel, und unter mir
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Ruht ein Ocean! doch in den hohlen Tiefen
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Donnert herauf Neptun. So steigen hier
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Gedanken empor; es rauscht das Feld in mir
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Von Todten, die sich ins Leben riefen.
 
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O, spräch' ich: »Sei!« und meine ganze Welt
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Erstünde mir, dem Gott, so! welche Millionen!
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Der Zoll der ganzen Schöpfung, tief versenkt
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Ins Meer der Nacht! So ruht das Gold, umschränkt
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Von Acherons, von Cerbers rings umbellt,
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Da Alpen, Klüfte, Plutons auf ihm thronen!
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So ruhn im Meere Schätze Millionen,
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Der Raub der Indiens, im Schiffbruch, ach! ertränkt!
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So schlummert unter Eis und Schneesthronen
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Des Frühlings bunte Blumenwelt!
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Wer ruft Dich, Frühlingswind, der mich von Banden
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Enteist! O welche Sonne gebiert
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Aus mir ein Tempe und weckt ein hohes Aehrenheer,
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Wie Riesen aus Jason's Saat entstanden!
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Entwälzt kein Hercules die Felsen mir und entführt
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Der Hölle mein Gold! Wer spricht zum Meer:
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»Gieb Deine Todten her!«
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Und kann ich selbst nicht, selbst mir Hercul sein?
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Er, der den Cerber speiend, die Allmachtskeule
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Gefaßt, im Löwenschmuck
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Voll Hyderblut erschien und Ruh und Säule
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Und Kampf Olympens nachließ; denn es trug
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Den Pappel-, Oel- und Lorbeer-Neugekrönten
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Die Wolke himmelwärts,
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Und dunkler Götterblitz im Auge des Verhöhnten
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Nahm Junons ganzes Herz
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Und Pindar's Geist, der seinen Spuren
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Voll Trotz sich, Adler, nachschwang!
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Wie Shakespeare, der aus Wildnißfluren
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Im Räubersbart zu Göttern drang;
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Denn er grub ins Menschenherz, zur Höllengluth
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Erschüttert, Simson, seine Tempelsäulen,
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Er, fast sein Schöpfer. Und sein Schöpferstab
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Spricht hier ein Feenreich, dort Wildnisse, die heulen.
58 
Das war er! und Mensch! - Mensch? und ich knie' vor Dir!
59 
Ich knie'! Ja, weinen will ich Blut
60 
Mir, nicht Dir! - und schwören mir,
61 
Nicht Shakespeare, ich zu sein. Fallt ab,
62 
Fesseln der Feigheit, ab!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.7 KB)

Details zum Gedicht „Zweites Selbstgespräch“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
62
Anzahl Wörter
425
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Zweites Selbstgespräch“ stammt aus der Feder von Johann Gottfried Herder, einem deutschen Dichter, Theologen und Philosophen. Herder lebte im 18. Jahrhundert und war eine zentrale Figur der Weimarer Klassik und der Aufklärung, in deren Kontext dieses Gedicht einzuordnen ist. Ein erster Eindruck des Gedichtes vermittelt einen starken Eindruck von Selbstreflexion, inneren Konflikten und der Bemühung, das Selbst zu ergründen und zu begreifen.

Das lyrische Ich in diesem Gedicht stellt sich existenzielle Fragen, erkundet seine Bewusstseins- und Gedankenwelt und ringt mit bekommenen und eigenen Ansichten. Im ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich das Erwachen seines Geistes und spürt die Tiefe und Komplexität seiner eigenen Existenz. In der zweiten Strophe beschreibt es das Potenzial seiner Gedanken und die Trägheit, die es überwinden muss, um die volle Macht seiner Gedanken zu entfesseln. In der dritten Strophe wird die Komplexität von Lebens- und Todeszyklen angesprochen, in der vierten und endgültigen Strophe wird das Thema Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit aufgegriffen.

Im Hinblick auf die Form des Gedichts fällt die unterschiedliche Verszahl in den Strophen auf, die vielleicht ein Hinweis auf die Ungleichmäßigkeit des inneren Erlebens und der Selbstreflexion ist. Sprachlich nutzt Herder eine grandiose, oft hyperbolische Sprache mit vielen mythologischen Anspielungen, um die Dramatik und epische Tragweite der Selbstsuche und des menschlichen Daseins zu schildern.

Das Gedicht arbeitet stark mit gegensätzlichen Bildern - Licht und Dunkelheit, Leben und Tod, Schlaf und Wachsein, um die komplexen und oft widersprüchlichen Aspekte des Selbst und des Lebens darzustellen. Es geht dabei um die tiefste Identität des Menschen, die in enger Beziehung zu Gott und der Umwelt steht. Die Reflexion auf die eigene Rolle in der Welt, das Ringen mit Glauben, seinen persönlichen Möglichkeiten und Grenzen machen es zu einem tiefgründigen Werk, das zur Innenschau auffordert und letztendlich die Frage nach der Autonomie des Menschen stellt.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Zweites Selbstgespräch“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Gottfried Herder. Geboren wurde Herder im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen). Im Zeitraum zwischen 1760 und 1803 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Die Epoche des Sturm und Drang reicht zeitlich etwa von 1765 bis 1790. Sie ist eine Strömung innerhalb der Aufklärung (1720–1790) und überschneidet sich teilweise mit der Epoche der Empfindsamkeit (1740–1790) und ihren Merkmalen. Häufig wird der Sturm und Drang auch als Genieperiode oder Geniezeit bezeichnet. Die Klassik knüpft an die Literaturepoche des Sturm und Drang an. Der Epoche des Sturm und Drang geht die Epoche der Aufklärung voran. Die Ideale und Ziele der Aufklärung wurden verworfen und es begann ein Auflehnen gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System. Bei den Vertretern der Epoche des Sturm und Drang handelte es sich vorwiegend um junge Autoren. Die Autoren versuchten in den Gedichten eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Autoren aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die alten Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Zwei sich deutlich unterscheidende Anschauungen hatten das 18. Jahrhundert bewegt: die Aufklärung und eine gefühlsbetonte Strömung, die durch den Sturm und Drang vertreten wurde. Die Weimarer Klassik ist im Grund genommen eine Verschmelzung dieser beiden Elemente. Die Weimarer Klassik nahm ihren Anfang mit der Italienreise Goethes im Jahr 1786 und endete mit dem Tod von Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1832. Wie der Name bereits verrät, liegen das literarische Zentrum und der Ausgangspunkt der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Zum Teil wird auch Jena als ein weiteres Zentrum dieser Literaturepoche angesehen. In Anlehnung an das antike Kunstideal wurde in der Klassik nach Harmonie, Vollkommenheit, Humanität und der Übereinstimmung von Inhalt und Form gesucht. In der Gestaltung wurde das Gültige, Gesetzmäßige, Wesentliche sowie der Ausgleich und die Harmonie gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache oft derb und roh ist, bleibt die Sprache in der Weimarer Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Die wichtigsten Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe. Weitere bekannte Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Die beiden zuletzt genannten arbeiteten jeweils für sich. Einen produktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller.

Das Gedicht besteht aus 62 Versen mit insgesamt 4 Strophen und umfasst dabei 425 Worte. Die Gedichte „Das Kind der Sorge“, „Das Orakel“ und „Das Ross aus dem Berge“ sind weitere Werke des Autors Johann Gottfried Herder. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Zweites Selbstgespräch“ weitere 413 Gedichte vor.

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