Ein Erinnerungslied von Johann Gottfried Herder

Nimm mich, nimm mich, Muse froher Tugend,
Mich noch einmal hin ins Eden meiner Jugend,
Das als Knospe mich dem Frühlinge entwand,
Wo ich, ganz mit Grazie begossen,
Meiner Freude erste Blüth' genossen,
Jeder Blüthe Morgenduft empfand!
 
Nimm von mir zwei Jahr-Olympiaden,
Laß mich in der Wunderquelle baden,
Die den Greis zum Jüngling neu verjüngt,
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Die ins graue Haar ihm Rosen bindet,
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Um den dürren Stab ihm Weinlaub windet,
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In die Adern neuen Frühling singt;
 
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Wo ich einst mit langen Othemzügen
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Heitern Aether, immer neu Vergnügen,
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Mit der Muttermilch die Weisheit sog,
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Mit dem Auge überall sah junge Reize blühen,
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Mit dem Ohre überall Gefühl und Harmonieen
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Und der Freude Erstling in mich zog.
 
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Drum, o Göttin meiner Jugendträume,
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Komm und zeige mir die anmuthsreichen Bäume,
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Die mit mir zur Krone aufgeblüht,
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Wo mein erstes Liedeslallen ist gelungen,
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Wo Du mir ein stärker Lied gesungen,
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Das noch jetzt durch meine Adern glüht!
 
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Zeige mir den Stamm, in den die Namen
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Deiner Söhne, Kleist's und Lessing's, kamen,
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Denen ich so oft, ach! nachgelallt,
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Oft benetzt mit heißen Jugendzähren!
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O, wenn alle volle Zweige wären,
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Blühte schon ein kleiner Lorbeerwald!
 
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Hier will ich mir meine Leyer höhlen,
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Du sollst sie mit Zauberton beseelen,
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Amorn in sie schließen, der sie dämpft.
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Gieb Dein goldnes Haar zu goldnen Saiten,
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Deine Stimme, jeden Ton zu leiten,
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Und Dein Lied, das mit ihr kämpft!
 
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Dann will ich zwar nicht auf Sonnenpfeilen
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Adlergleich den höchsten Aether theilen,
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Um mein Land zum Pindus zu erhöhn;
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Aber sanft mit stillen Taubenflügeln
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Will ich von der Morgenröthe Hügeln
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Meine Jugend wiedersehn.
 
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Meinen Kindheitsengel will ich singen,
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Der mein junges Leben oft aus Schlingen,
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Aus Gefahren mich mit sanften Banden riß;
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Der dem zarten Geist der Weisheit Namen
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Einschrieb, der ins weiche Herz den Samen
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Jeder Tugend pflanzen ließ.
 
49 
Singen will ich, die mit Mutterschmerzen
50 
Mir das beste Blut aus ihrem Herzen
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Schenkte, die mich in die Welt gebar,
52 
Mich mit Milch und Schlaf und Nektarküssen tränkte,
53 
Meinen Fuß und Herz und Zunge lenkte
54 
Und mein zweiter Schöpfer war.
 
55 
Mutter, die mich mit der Weisheit Tropfen nährte,
56 
Die mich beten, fühlen, denken lehrte,
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O, gesegnet seist Du, Mutterschooß!
58 
Wo ich früh als Mensch und Christ schon fühlte,
59 
Gott mit Thränen lallte, - und sie kühlte
60 
Jede Thrän', die ich vergoß.
 
61 
Thränend will ich ihre Hände küssen,
62 
Thränend meines Vaters Grab umschließen,
63 
Wie ein Pilgrim, ringsum Rosen streun.
64 
Ruhe sanft, mein Vater, Freund, Erhalter,
65 
Patriot für zweene Menschenalter,
66 
Dieses sei Dein Leichenstein!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.6 KB)

Details zum Gedicht „Ein Erinnerungslied“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
66
Anzahl Wörter
410
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Johann Gottfried Herder, ein bedeutender Philosoph, Theologe, Dichter und Literaturtheoretiker der deutschen Aufklärung. Er wurde am 25. August 1744 geboren und starb am 18. Dezember 1803. Das Gedicht gehört daher der Epoche der Aufklärung an.

Der erste Eindruck des Gedichts ist geprägt von nostalgischen Gefühlen und der Sehnsucht nach Jugend und Vergangenheit. Es handelt sich um eine lyrische Reflexion über die eigene Lebensgeschichte und die Wertschätzung von Erinnerungen.

Das lyrische Ich bittet die Muse der Tugend, es zurück in die Erinnerungen seiner Jugend zu führen, in eine Zeit der Freude und des Erwachens. Es möchte seine verkümmerte Jugend wiederbeleben, indem es in die „Wunderquelle“ eintaucht, die dem Greis neues, jugendliches Leben einhaucht. Es erinnert sich an die Zeit, in der es in enger Verbindung mit der Natur stand und Anregungen und Weisheit aus ihr schöpfte. Es ruft die Göttin seiner Jugendträume an, die ihm dabei hilft, seine Jugend zu erinnern und zu würdigen. Es drückt den Wunsch aus, in dieses Reich der lebendigen Erinnerung hinein komponieren zu wollen, angeleitet von der zauberhaften Energie der Muse. Es heißt seine Mutter willkommen, die es erzogen und geleitet hat, und erinnert sich trauernd an seinen verstorbenen Vater, den es als Freund und Beschützer vermisst.

Form und Sprache des Gedichts sind durch eine ausgesprochen reichhaltige, bildhafte und emotional aufgeladene Ausdrucksweise gekennzeichnet. Die Verse sind in kunstvollen und sorgfältig abgewogenen Formulierungen verfasst, wobei der Betrachtung der Erinnerungen und der eigenen Entwicklung eine fast meditative Qualität verliehen wird. Die Formuhlierungen und Metaphern zeugen von hoher dichterischer Meisterschaft und verleihen dem Gedicht eine außergewöhnliche Tiefe und Intensität. Das Gedicht ist in Strophen zu je sechs Versen organisiert, was einen regelmäßigen Rhythmus schafft und den Reflektionen des lyrischen Ichs Struktur und Kontinuität verleiht. Es vermittelt den Eindruck eines wohlstrukturierten und pointierten poetischen Dialogs zwischen dem lyrischen Ich und der Muse, zwischen dem gegenwärtigen Erzähler und seiner vergangenen Jugend.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Ein Erinnerungslied“ ist Johann Gottfried Herder. 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Zwischen den Jahren 1760 und 1803 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Zwischen den Epochen Empfindsamkeit und Klassik lässt sich in den Jahren von 1765 bis 1790 die Strömung Sturm und Drang einordnen. Zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit sind häufige Bezeichnungen für diese Literaturepoche. Die Epoche des Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen das gesellschaftliche System und die Prinzipien der Aufklärung wendeten. Die Schriftsteller der Epoche des Sturm und Drangs waren häufig unter 30 Jahre alt. Um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Vorschein zu bringen, wurde besonders darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die Nachahmung und Idealisierung von Künstlern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die traditionellen Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Mit seinen beiden wichtigen Vertretern Schiller und Goethe entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Die Weimarer Klassik ist eine Literaturepoche, die insbesondere von den Dichtern Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller geprägt wurde. Goethes Italienreise im Jahr 1786 markiert den Anfang der Epoche. Das Todesjahr von Goethe, 1832, markiert das Ende der Weimarer Klassik. In der Epoche sind Einflüsse der Französischen Revolution festzustellen. Wie der Name bereits verrät, liegen der Ausgangspunkt und das literarische Zentrum der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Zum Teil wird auch Jena als ein weiteres Zentrum der Literaturepoche angesehen. In Anlehnung an das antike Kunstideal wurde in der Klassik nach Vollkommenheit, Harmonie, Humanität und der Übereinstimmung von Inhalt und Form gesucht. In der Weimarer Klassik wird eine sehr einheitliche, geordnete Sprache verwendet. Allgemeingültige, kurze Aussagen sind häufig in Werken der Weimarer Klassik zu finden. Da man die Menschen früher mit der Kunst und somit auch mit der Literatur erziehen wollte, setzte man großen Wert auf Stabilität und formale Ordnung. Metrische Ausnahmen befinden sich immer wieder an Stellen, die hervorgehoben werden sollen. Die bedeutendsten Vertreter der Klassik sind: Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottfried von Herder und Christoph Martin Wieland.

Das Gedicht besteht aus 66 Versen mit insgesamt 11 Strophen und umfasst dabei 410 Worte. Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Amor und Psyche“, „An Auroren“ und „An den Schlaf“. Zum Autor des Gedichtes „Ein Erinnerungslied“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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