Die Wiege von Johann Gottfried Herder

Wer ist der kleine Sklave, der in Banden
Aus diesem frühen Sarge Klagen weint?
Mein Bruder? Brüder, o, so löset seine Banden,
Macht seinen Seufzern Platz! die hemmt kein Feind.
Der Wurm kann sich im Tode krümmen, winden,
Das Lamm fleht seinen Mörder an;
Und einen, Euren Säugling laßt Ihr binden,
Kaum daß er seufzen kann!
 
O Weltankömmling, Deinen zarten Händen
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Prägt dieses Band elende Knechtschaft ein;
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Um Deinen Gang von Sarg zu Sarg zu enden,
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Mußt Du der Sklaven ew'ger Sklave sein.
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Dies Trauerlied war's, das im Weben
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Die Parze Deinem Schicksal sang,
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Da sie Dein Band zum Leben
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Als Kette um Dich schlang.
 
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O, wenn Du einst im Chaos von Ideen
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Arbeitest, Fesseln fühlst und aufwärts ringst,
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Wenn Du schiffbrüchig einst, um Tag zu sehen,
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Vom Abgrund, wie im Eisenpanzer, dringst,
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Einst schaust nach neuen Aethersbahnen,
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Wie Sonnenpferde rasch, Du einst
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Nach neuen Unterthanen
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Blut mit Heldenthränen weinst
 
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Nicht weibisch Wasser; wenn aus Deiner Seele
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Dir in die Flügel stürmet Adlerswuth,
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Du wägst den schweren Leib im Staub der Höhle,
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Und immer mehr lockt Dich der Sonne Gluth;
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Doch schon vom ersten Morgensterne
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Ermattet, blickst zur Tiefe Du herab
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Und schaust in grauer Ferne
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Den Erdball, der Dich gab:
 
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Dann pocht Dein Herz, daß, die auf Erden wohnen,
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Zu Staub geboren sind, zu Finsterniß.
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Vielleicht erdrückte Dir Gedankenmillionen
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Der erste Griff, der Dich zum Lichte riß;
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Der erste Zug aus Mutterbrüsten
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Gab Dir vielleicht ein Maaß von Pein,
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Von tausend schwarzen Lüsten
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Und Gift und Lastern ein;
 
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Nein, Säugling, Tränk in Deine Säfte,
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Ruh in Dein Herz und Seele ins Gehirn.
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Stets laben Dich mit Milch der Tugend Kräfte;
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Stets lache so, wie jetzo, Deine Stirn;
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Nie sprech' Dein Vater aus Erbarmen
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Dir zu: »O Sohn, hätt' ich Dich nicht gezeugt!«
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Nie sprech' ein Kreis von Armen:
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»Den hat ein Thier gesäugt!«
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.4 KB)

Details zum Gedicht „Die Wiege“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
304
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Der vorliegende Text ist ein Gedicht von Johann Gottfried Herder, einem deutschen Dichter, Theologen und Philosophen, der von 1744 bis 1803 lebte. Er ist eine zentrale Figur der Weimarer Klassik und des Sturm und Drang, und seine Werke trugen wesentlich zur Entwicklung der germanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft bei.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht recht komplex und intellektuell. Die verwendete Sprache ist sehr bildlich und metaphorisch, was Zeichen von Herders philosophischem Hintergrund ist.

Inhaltlich richtet das Gedicht den Blick auf ein neugeborenes Kind, das metaphorisch als Sklave in Banden beschrieben wird. Damit wird vermutlich auf die Unfreiheit und Zwänge hingewiesen, in die ein Mensch von Geburt an hineingeboren wird. Herder beklagt die Tatsache, dass wir von Anfang an durch soziale, kulturelle und persönliche Faktoren in unserer Freiheit eingeschränkt sind. Diese beginnen schon in der Kindheit und setzen sich im gesamten Lebensverlauf fort.

In Bezug auf Form und Sprache fällt auf, dass das Gedicht in sechsstrophigen, achtzeiligen Versen verfasst ist. Die Sprache ist in hohem Maße metaphorisch und bildhaft, um die Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs auszudrücken. Zudem verwendet Herder eine gehobene, teils pathetische Sprache, die dem ernsten Thema des Gedichts gerecht wird.

Analytisch gesprochen, scheint das lyrische Ich eine prophetische Rolle einzunehmen und eine vorausschauende Warnung vor den Zwängen und Begrenzungen des Lebens auszusprechen. Es ist ein Ausdruck des tiefen Mitgefühls mit der menschlichen Situation und gleichzeitig eine Anklage gegen die Unfreiheit, die das menschliche Leben bestimmt. Mit konkreten Bildern wie „Sklave“, „Banden“ und „Kette“ wird die drückende Ahnung von künftigen Leiden ausgedrückt, die das Leben mit sich bringen wird.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Die Wiege“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Gottfried Herder. Der Autor Johann Gottfried Herder wurde 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Zwischen den Jahren 1760 und 1803 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das philosophische und literarische Denken in Deutschland. Der Sturm und Drang kann als eine Jugend- und Protestbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale verstanden werden. Das Auflehnen gegen die Epoche der Aufklärung brachte die wesentlichen Merkmale dieser Epoche hervor. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig junge Schriftsteller im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Die Schriftsteller versuchten in den Dichtungen eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die alten Werke vorangegangener Epochen wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Mit dem Hinwenden Goethes und Schillers zur Weimarer Klassik endete der Sturm und Drang.

Die Literaturepoche der Klassik beginnt nach heutiger Auffassung mit der Italienreise Goethes, die er im Jahr 1786 im Alter von 36 Jahren machte. Das Ende der Epoche wird auf 1832 datiert. In der Klassik wurde die Literatur durch Einflüsse der Französischen Revolution, die ziemlich zu Beginn der Epoche stattfand, entscheidend geprägt. In der Französischen Revolution setzten sich die Menschen dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Literarisches Zentrum und Ausgangspunkt der Weimarer Klassik (kurz auch häufig einfach nur Klassik genannt) war Weimar. Prägend für die Zeit der Weimarer Klassik ist der Begriff Humanität. Toleranz, Menschlichkeit, Schönheit, Selbstbestimmung und Harmonie sind wichtige inhaltliche Merkmale der Weimarer Klassik. Die Weimarer Klassik orientierte sich an klassischen Vorbildern aus der Antike. Ein hohes Sprachniveau ist für die Werke der Weimarer Klassik typisch. Während man im Sturm und Drang die natürliche Sprache wiedergeben wollte, stößt man in der Weimarer Klassik auf eine reglementierte Sprache. Die wichtigsten Schriftsteller der Klassik sind Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Weitere Schriftsteller der Klassik sind Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder. Die beiden letztgenannten arbeiteten jeweils für sich. Einen konstruktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller.

Das vorliegende Gedicht umfasst 304 Wörter. Es baut sich aus 6 Strophen auf und besteht aus 48 Versen. Der Dichter Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „An den Schlaf“, „An die Freundschaft“ und „Apollo“. Zum Autor des Gedichtes „Die Wiege“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 413 Gedichte vor.

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