Der Zweifel von Christian Felix Weiße

Daß Weltbezwinger voll von Krieg,
Durch Schlacht, Eroberung und Sieg,
Die Bürger groß und glücklich machen:
Ja, daran zweifl’ ich sehr:
Doch daß die Staaten reizend blühn,
Wo Fürsten weise Bürger ziehn,
Und über die Gesetze wachen:
Nein, daran zweifl’ ich nicht mehr.
 
Daß das Verdienst am Hofe steigt,
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Das Laster vor der Tugend schweigt,
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Vom Thron beschämt die Schmeichler eilen,
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Ja, daran zweifl’ ich sehr:
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Daß Narrheit, Bosheit, Trug und List
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Zur Hoheit oft die Leiter ist,
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Laquayen Huld und Gnad ertheilen,
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Nein, daran zweifl’ ich nicht mehr.
 
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Daß jeder Priester heilig lebt,
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Der Philosoph nach Weisheit strebt,
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Die Unschuld vor Gerichte sieget;
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Ja, daran zweifl’ ich sehr.
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Daß oft der Fromme menschlich irrt,
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Der Philosoph zum Thier oft wird,
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Das Recht dem Gold oft unterlieget;
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Nein, daran zweifl’ ich nicht mehr.
 
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Daß, wer aus goldnen Schüsseln speist,
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Den laut der Pöbel glücklich preist,
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Des Lebens wahres Glück empfindet;
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Ja, daran zweifl’ ich sehr:
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Doch daß der Mann sein Leben nützt,
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Der nicht mehr wünscht, als er besitzt,
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Sich nicht am Wahn des Pöbels bindet;
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Nein, daran zweifl’ ich nicht mehr.
 
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Mein Vetter schüttet Geld in Hut,
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Und ruft: dieß ist das höchste Gut!
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Sieh Kind, dieß mußt du dir erwerben;
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Ja, daran zweifl’ ich sehr.
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Doch wenn man nicht sein Geld vergräbt,
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Mit Freunden davon freudig lebt,
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Daß es denn schön ist, Geld zu erben:
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Nein, daran zweifl’ ich nicht mehr.
 
41 
Wenn sich Beatrix schminkt und schmückt,
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Liebäugelt, buhlt, die Hände drückt,
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Daß sie dadurch ein Herz entrissen.
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Ja, daran zweifl’ ich sehr:
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Doch daß, wenn auch kein Putz sie ziert,
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Die göttliche Selinde rührt,
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Und jeder Mund sie wünscht zu küssen,
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Nein, daran zweifl’ ich nicht mehr.
 
49 
Daß, um geehrt und reich zu seyn,
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Ich mich demüthig, kriechend, klein,
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Wenn mich das Glücke flieht, geberde;
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Ja daran zweifl’ ich sehr.
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Daß ich entfernt vom Sklaverey,
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Freund, Vaterland und Mädchen treu,
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Frey leben und frey sterben werde:
56 
Nein, daran zweifl’ ich nicht mehr.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.4 KB)

Details zum Gedicht „Der Zweifel“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
56
Anzahl Wörter
325
Entstehungsjahr
1758
Epoche
Aufklärung

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Christian Felix Weiße. Er war ein bedeutender Schriftsteller und Übersetzer der deutschen Aufklärung, geboren 1726 und gestorben 1804. Die Zeit der Aufklärung steht für den Glauben an Vernunft, Freiheit, Fortschritt und eine kritische Distanz gegenüber Autorität und Religion. Diese Themen sind auch in Weiße´s Gedicht zu finden.

Das Gedicht „Der Zweifel“ hinterlässt auf den ersten Eindruck einen starken Eindruck von gesellschaftlicher Kritik und Selbstreflexion. Es besteht aus sieben Strophen mit je acht Versen. Jede Strophe behandelt eine bestimmte Thematik und ist in der Form einer selbstreflexiven Betrachtung aufgebaut.

Das lyrische Ich beschreibt mehrere Situationen und Umstände, an denen es zweifelt und solche, an denen es nicht zweifelt. Beispielsweise zweifelt das lyrische Ich stark daran, dass Macht, Reichtum und gesellschaftlicher Status notwendigerweise zum Glück und Zufriedenheit führen (Strophen 1, 2, 4 und 5). Es stellt das eigene Streben nach Bescheidenheit, Redlichkeit und Autonomie dagegen und betont, dass es keinen Zweifel an deren Wert hat (Strophen 3, 6 und 7). Über diesen Zweifel hinausgehend, stellt es diese als wahr dar und präferiert sie über äußeren Reichtum und Autorität.

In Form und Sprache des Gedichts erkennt man den Stil der Aufklärung, der von Klarheit, Einfachheit und Rationalität geprägt ist. Das Gedicht folgt einem klaren Metrum und Reimschema (abcb), was Klarheit und Zugänglichkeit schafft. Es nutzt zudem eine einfache, direkte Sprache, um seine Botschaft zu vermitteln, was seinem aufklärerischen Bekenntnis zur Vernunft und Rationalität entspricht. Das lyrische Ich adressiert die Leser direkt und fordert sie auf, ihre eigenen Lebenssituationen, Prioritäten und Werte zu hinterfragen. Es zeigt, dass die wahren Tugenden und ein glückliches Leben nicht in äußerem Reichtum und gesellschaftlichem Status liegen, sondern in Aspekten wie Bescheidenheit, Bildung und moralischer Integrität. Dem Leser wird nahegelegt, dass diese Tugenden, obwohl sie oft übersehen oder unterschätzt werden, der Schlüssel zu einem wahren und sinnvollen Leben sind.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der Zweifel“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Christian Felix Weiße. Im Jahr 1726 wurde Weiße in Annaberg geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1758 zurück. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Aufklärung zuordnen. Der Schriftsteller Weiße ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 325 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 56 Versen mit insgesamt 7 Strophen. Der Dichter Christian Felix Weiße ist auch der Autor für Gedichte wie „Cephalus und Aurore“, „Chloe“ und „Chloe im Bade“. Zum Autor des Gedichtes „Der Zweifel“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 100 Gedichte vor.

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