An die Gelegenheit von Johann Gottfried Herder

Singt die Göttin des Glücks, singet die Königin
Selbst der Schicksale! singt sie, die dem Dürftigen
Manna, goldene Kronen
Wirft als Bote der Götter herab,
Wirft der Sterblichen Loos, sendet der Freuden Heer,
Leichter Schatten des Glücks und des noch schnelleren
Unglücks, und der entschlossne
Weise haschet und greifet sein Loos!
Greift nach Freuden und Ruhm; haschet er aber blind
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Schwarzumwölkte Gefahr oder ein schimmernd Nichts,
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Lächelnd giebt's er den Winden
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Und greifet klüger und fasset es fest,
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Was er haschte. Und sie schwindet im Flug so schnell,
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Plötzlich, wie der Gedank, edel zu sein, erstirbt,
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Und drauf keimende Reue
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Schnell zum innersten Herzen gräbt.
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Und drauf schwarzer Verdacht Flammen der Rache speit,
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Und doch leider zu spät seufzet die Seele nach,
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Nach der flüchtigen Göttin,
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Die die Reue der Thoren verlacht.
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Ein zweischneidiges Schwert wühlet sich in die Brust,
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Wenn arbeitend der Geist unter der Last erliegt;
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Vor Dir hingen des Schicksals
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Ehrne Schalen, das Leben und Tod!
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Tod ist Dein! Du ergriffst nicht der Gelegenheit
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Schnell zu fassende Stirn; ewig, auf ewig floh,
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Die auf Seufzern der Reue,
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Als auf schnelleren Flügeln, entweicht.
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Wer sie suchet, umsonst! denn sie verbirgt sich Dir;
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Wer sie fliehet, umsonst! denn sie verfolgt Dich nie;
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Aber wer sie belauschet,
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Trägt olympische Kränze davon.
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Und sie gießet das Horn grünender Füll' auf ihn,
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Und sein duftendes Haupt pranget Unsterblichkeit;
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Rosen sprosset ihr Tritt auf,
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Wo der Fliehnde die Erde berührt;
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Die im Felde des Ruhms schwer zu erreichenden
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Ew'gen Lorbeer zum Ziel glänzender Thaten hebt
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Und auf trennenden Wegen
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Sich dem wählenden Jüngling zeigt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27 KB)

Details zum Gedicht „An die Gelegenheit“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
261
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht wurde von Johann Gottfried Herder, einem deutschen Philologen, Philosophen, Theologen, Lehrer und Übersetzer verfasst. Als eine Figur der Weimarer Klassik und als Erfinder des historizistischen Prinzips zählt Herder zu den bedeutendsten Denkern der deutschen Klassik. Er lebte von 1744 bis 1803 und das Gedicht „An die Gelegenheit“ kann zeitlich in die späte Epoche der Aufklärung eingeordnet werden.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht sehr dramatisch und thematisiert das flüchtige und temporäre Wesen des Glücks sowie die Verletzlichkeit des Menschen. Herder präsentiert das Glück als eine Göttin, die ihre Gaben vom Himmel herabwirft und den Menschen eine kurze, flüchtige Gelegenheit bietet, diese zu ergreifen.

Die ganze Metaphorik im Gedicht zielt auf das Bild der flüchtigen und schnell verbleichenden Gelegenheit ab, die das Leben bietet. Interessant ist dabei das lyrische Ich, das die Rolle eines weisen Beobachters einnimmt und die Macht und Fähigkeit der Sterblichen, ihr eigenes Schicksal zu ergreifen, hervorhebt.

In Bezug auf die Form und Sprache ist das Gedicht durch eine klare Rhetorik und Metrik geprägt. Das gesamte Gedicht besteht aus Alexandrinern, einer sehr traditionellen Versform, oft benutzt in der französischen und englischen klassischen Literatur. Die alexandrinerartige Versform, oftmals gekennzeichnet durch die strenge Trennung der Verse, gilt als Symbol für die klare Trennung zwischen Leben und Tod, Glück und Unglück.

Die Sprache des Gedichts ist sehr bildlich und metaphorisch. Herder nutzt klassische Bilder und Metaphern, wie das göttliche Manna, goldene Kronen, das doppeltes Schwert und das Horn der Fülle, um seine Botschaft zu vermitteln. Diese Bildlichkeit verleiht dem Gedicht eine metaphorische Tiefe und eröffnet verschiedene Möglichkeiten der Interpretation.

Insgesamt kann das Gedicht „An die Gelegenheit“ als eine poetische Reflexion über menschliche Verletzlichkeit und das flüchtige Wesen von Glück und Gelegenheit gelesen werden. Es vermittelt die Botschaft, dass Glück eine flüchtige und schnell verbleichende Erscheinung ist, die von den Sterblichen ergriffen werden muss, bevor sie für immer verfließt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „An die Gelegenheit“ des Autors Johann Gottfried Herder. Der Autor Johann Gottfried Herder wurde 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Im Zeitraum zwischen 1760 und 1803 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Die Epoche des Sturm und Drang ist eine Strömung in der deutschen Literaturgeschichte, die häufig auch als Genieperiode oder Geniezeit bezeichnet wird. Die Literaturepoche ordnet sich nach der Epoche der Empfindsamkeit und vor der Klassik ein. Sie lässt sich auf die Zeit zwischen 1765 und 1790 eingrenzen. Die Epoche des Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Die Autoren der Epoche des Sturm und Drangs waren häufig unter 30 Jahre alt. Die Autoren versuchten in den Gedichten eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die alten Werke vorheriger Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Aber dennoch wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik ist eine Epoche der deutschen Literaturgeschichte, die von zwei zentralen Dichtern geprägt wurde: Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Die Literaturepoche beginnt 1786 mit Goethes Italienreise und endet 1832 mit dem Tod Goethes. Es gibt aber auch zeitliche Eingrenzungen, die das gemeinsame Schaffen der beiden befreundeten Dichter Goethe und Schiller von 1794 bis zu Schillers Tod 1805 als Weimarer Klassik zeitlich festlegen. Das Zentrum dieser Literaturepoche lag in Weimar. Es sind sowohl die Bezeichnungen Klassik als auch Weimarer Klassik gebräuchlich. Statt auf Konfrontation und Widerspruch wie noch in der Aufklärung oder im Sturm und Drang strebte die Klassik nach Harmonie. Die wichtigsten Werte sind Toleranz und Menschlichkeit. Die Klassik orientierte sich an klassischen Vorbildern aus der Antike. Ziel der Literaturepoche der Klassik war es die ästhetische Erziehung des Menschen zu einer „charakterschönen“ Persönlichkeit zu forcieren. In der Gestaltung wurde das Gesetzmäßige, Wesentliche, Gültige aber auch die Harmonie und der Ausgleich gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache oftmals roh und derb ist, bleibt die Sprache in der Weimarer Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Schiller, Goethe, Wieland und Herder können als die Hauptvertreter der Klassik bezeichnet werden. Aber nur Goethe und Schiller inspirierten und motivierten einander durch eine enge Zusammenarbeit und wechselseitige Kritik.

Das Gedicht besteht aus 40 Versen mit nur einer Strophe und umfasst dabei 261 Worte. Die Gedichte „Apollo“, „Bilder und Träume“ und „Das Flüchtigste“ sind weitere Werke des Autors Johann Gottfried Herder. Zum Autor des Gedichtes „An die Gelegenheit“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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