Das Grab des Heilandes von Johann Gottfried Herder

So schläfst Du nun den Todesschlaf im Grabe,
Du junger Held, der schöne Dornen trug.
Dein Leben war für Tausend Lebensgabe,
Dein Tod erquickt auch Sterbende mit Muth.
Ruh denn, erlöst von allem Jammer,
Womit Dich Menschenhärte traf,
In Deiner stillen Kammer
Den schwer errungnen Schlaf!
 
Du aber, Freund, an diesem bittern Tage
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Komm, schau mit mir der Menschheit Scenen an!
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Sieh, welch ein Mensch! betracht ihn tief und sage,
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Wer Menschen segnender je werden kann!
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Komm, laß an seiner Gruft uns denken,
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Was uns im Tod allein erfreut!
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Aus Liebe sich zu kränken,
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Ist süße Dankbarkeit.
 
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In Nazareth, am Galiläermeere,
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Wer gab dem Jünglinge den hohen Geist,
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Der, wie entkommen schon der Erden Schwere,
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Sein Reich den Himmel, Gott nur Vater heißt,
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Und schaut, wie seine Sonne leuchtet
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Auf Bös' und Gute, wie sein Thau
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So Ros' als Dorn befeuchtet
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Auf einer Gottesau'!
 
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»Auf, laßt uns Kinder sein der Vatergüte,
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Vollkommen, wie der Herr vollkommen ist!«
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So pflanzt' er in der Sterblichen Gemüthe
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Unsterblich Wesen, das sich selbst vergißt
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Und im Verborgnen schafft und betet,
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Für Menschen schafft, für Feinde fleht,
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Still für die Zukunft säet
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Und still von dannen geht.
 
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»Glücksel'ge Armen! glücklich, die da leiden
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In sanfter Unschuld, die Erbarmenden,
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Die, reines Herzens, Menschen Fried' und Freuden
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Und Mitleid reichen und den Haß bestehn!
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Seid fröhlich und getrost! Euch lohnet
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Im Himmel ew'ger Trost und Lohn,
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Wo jeder Gute wohnet,
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Dem Haß der Welt entflohn.
 
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Ihr seid der Zeiten Licht, das Salz der Erde,
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Ein Stern der Nacht, ein Keim der Fruchtbarkeit;
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In Euch ist Glanz, damit Glanz um Euch werde,
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In Euch ist Reichthum, der die Erde weiht!
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Auf! dringet durch die enge Pforte!
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Eng ist die Pforte, schmal der Weg,
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Der zu dem Freudenorte
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Führt unbetretnen Steg.«
 
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So sprach er und ging selbst der Dornen Pfade,
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Die noch dem Sterbenden sein blutig Haupt
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Im Kranze schmückten. Haupt, Du lächelst Gnade,
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Als hätte Ros' und Lorbeer Dich umlaubt!
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Entschlummre! Bald wird Deine Krone,
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Siegprangend wie der Sterne Glanz,
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Dem Menschengott zum Lohne
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Ein ew'ger Gotteskranz.
 
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Denn sanft wie Gott, gefällig gleich den Engeln,
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War Güte nur und Huld sein Königreich.
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Mitfühlend unsrer Last und unsern Mängeln,
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Nur sich allein an Kraft und Würde gleich,
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Ein Gotteseifrer ohn' Entrüsten,
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Der, nie verhöhnend, oft beweint,
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Was Menschen dulden müßten,
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Ein ächter Menschenfreund.
 
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Wie? hatt' er nicht schon lebend g'nug gelitten?
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Er, dessen Herz das Mitleid selber war;
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Ein zarter Sproß, um den die Stürme stritten,
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Ein Arzt, dem fremdes eigen Leid gebar.
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»Laß diesen Kelch vorübergehen!
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Doch, Vater, Du hast ihn gefüllt;
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Dein Wille soll geschehen!
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Nicht ich - wie Du, Herr, willt.«
 
73 
Er trank ihn! Als nun seine zarten Glieder
74 
Gefühl der Gottverlassenheit durchdrang;
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Schon drückte Nacht die matten Augenlider,
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Des schweren Hohnes schwarze Wolke sank;
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Zerrissen war der letzten Schmerzen
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Geliebter Knote, der den Freund
79 
Mit Freund'- und Mutterherzen
80 
Im Tode noch vereint;
 
81 
Da blickt' er auf und sah die schönen Auen,
82 
Die er dem Sünder mitleidsvoll verhieß.
83 
»Gedenk an mich und laß Dein Reich mich schauen!«
84 
»Heut sollst Du's schau'n, der Freuden Paradies!
85 
Empfang in Deine Vaterhände
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Den matten Geist! - Es ist vollbracht!«
87 
Da kam sein stilles Ende,
88 
Sein Auge schloß die Nacht.
 
89 
Nicht Thränen, Freund, ein Leben ihm zu weihen,
90 
Wie seines - das nur ist Religion.
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Was ihn erfreute, soll auch uns erfreuen;
92 
Was er verschmähte, sei uns schlechter Lohn!
93 
Mit Güte Bosheit überwinden,
94 
Den Haß der Welt, wie er, verzeihn,
95 
Im Wohlthun Rache finden,
96 
Soll Christenthum uns sein.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (32.7 KB)

Details zum Gedicht „Das Grab des Heilandes“

Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
96
Anzahl Wörter
577
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht „Das Grab des Heilandes“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, einem wichtigen Vertreter der Weimarer Klassik. Herder lebte von 1744 bis 1803, das Gedicht lässt sich entsprechend in das späte 18. oder frühe 19. Jahrhundert einordnen.

Der erste Eindruck des Gedichts ist von einer tiefen Ehrfurcht und Reverenz geprägt. Es beschäftigt sich thematisch mit dem Tod und den Lehren Jesus Christus und wirkt dabei gleichzeitig feierlich und nachdenklich.

Inhaltlich konzentriert sich das lyrische Ich auf die Rückblick auf das Leben und Wirken von Jesus, seine Lehren und sein Sterben. Es wird eine intensive Beziehung und Zuneigung zum „jungen Helden“ ausgedrückt, der das menschliche Leiden überwinden und anderen Hoffnung und Mut geben konnte.

Sprachlich ist das Gedicht stark emotional und bildreich. Es macht Gebrauch von Metaphern und religiösen Symbolen, um die Bedeutung der Ereignisse besonders hervorzuheben. Es wird auch der Kontrast zwischen dem Leiden und Sterben Jesu und seiner letzten Botschaft von Liebe, Vergebung und Hoffnung aufgezeigt.

Formal besteht das Gedicht aus zwölf achtzeiligen Strophen, also insgesamt 96 Versen. Die Sprache ist gehoben und elegant, mit reichlich Verwendung von poetischen Mitteln wie Alliterationen, Anaphern und Enjambements.

Insgesamt ist Herders Gedicht eine tiefgreifende Reflexion und Würdigung des Lebens und der Lehren von Jesus. Es fordert den Leser auf, die gleiche Haltung der Nächstenliebe, Vergebung und Selbstlosigkeit anzunehmen, die der „Heiland“ verkörperte, und erinnert an die endgültige Hoffnung, die sein Opfer für die Menschheit bedeutet. Es ist somit nicht nur ein Ausdruck seines tiefen christlichen Glaubens, sondern auch ein Appell an die Menschlichkeit und Güte in uns allen. Er vertritt die Ansicht, dass ein Leben nach den Prinzipen von Nächstenliebe und Güte der wahrhafte Ausdruck von Christentum ist.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Das Grab des Heilandes“ des Autors Johann Gottfried Herder. 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1760 bis 1803 entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Der Schriftsteller Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von etwa 1765 bis 1790 und wird häufig auch Geniezeit oder zeitgenössische Genieperiode genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Der Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das literarische und philosophische Denken im deutschen Sprachraum. Der Sturm und Drang „stürmte“ und „drängte“ als Protest- und Jugendbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale. Ein wesentliches Merkmal des Sturm und Drang ist somit ein Auflehnen gegen die Epoche der Aufklärung. Die Vertreter des Sturm und Drang waren häufig junge Autoren im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Die Autoren versuchten in den Gedichten eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Werke vorheriger Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Aber dennoch wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Mit seinen beiden bedeutenden Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Die Weimarer Klassik ist eine Epoche der deutschen Literaturgeschichte, die von zwei zentralen Dichtern geprägt wurde: Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Die Literaturepoche beginnt im Jahr 1786 mit Goethes Italienreise und endet im Jahr 1832 mit Goethes Tod. Es gibt aber auch zeitliche Eingrenzungen, die das gemeinsame Schaffen der beiden befreundeten Dichter Goethe und Schiller von 1794 bis zu Schillers Tod 1805 als Weimarer Klassik zeitlich festlegen. Wie der Name bereits verrät, liegen das literarische Zentrum und der Ausgangspunkt der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Teilweise wird auch Jena als ein weiteres Zentrum der Literaturepoche angesehen. Die Klassik geht von der Erziehbarkeit des Individuums zum Guten aus. Ihr Ziel ist die Humanität, die wahre Menschlichkeit (das Schöne, Gute, Wahre). Die Vertreter der Klassik gingen davon aus, dass Gott den Menschen Gefühle und Vernunft gibt und die Menschen damit dem Leben einen Sinn geben. Das Individuum ist also von höheren Mächten bestimmt. In der Gestaltung wurde das Wesentliche, Gültige, Gesetzmäßige aber auch der Ausgleich und die Harmonie gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache oftmals derb und roh ist, bleibt die Sprache in der Weimarer Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Die berühmtesten Vertreter der Klassik sind: Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottfried von Herder und Christoph Martin Wieland.

Das vorliegende Gedicht umfasst 577 Wörter. Es baut sich aus 12 Strophen auf und besteht aus 96 Versen. Der Dichter Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Das Flüchtigste“, „Das Gesetz der Welten im Menschen“ und „Das Glück“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das Grab des Heilandes“ weitere 413 Gedichte vor.

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