Lied des Lehrers von Johann Gottfried Herder

O Vater, Vater, Dich soll ich
Die Menschenkinder lehren!
O lehre mich, erhebe mich,
Dein Wort nur mir zu hören,
Und laß es denn im Munde mein
Den Brüdern Milch und Honig sein,
Es ewig zu genießen,
Es ewig fort zu gießen!
 
O Gott, o Gott, verdiente ich,
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Ich, Deinen Sohn zu kennen?
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Du wähltest, Du geliebtest mich,
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In ihm nur Dich zu nennen,
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Und zeigtest mir Dein Himmelreich,
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Verborgen sonst uns allzugleich;
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Was Witz und Weisheit schweiget,
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Hast Du mir, Herr, gezeiget.
 
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Geheimniß, Gottes Menschenplan,
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Du Schatz der Ewigkeiten!
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Wie lieb' ich Dich und bete an
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Und dürste, fortzuschreiten
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Zu Dir, der Du mir Alles bist
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Und dies mein armes Ich erkiest,
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Mir drin in Himmelsstille
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Zu werden Licht und Fülle!
 
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Ich hörte den Gesang der Nacht,
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Das Lied der stillen Sterne;
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Ich sah den Schauplatz Deiner Macht,
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Nur ahnend Dich von ferne.
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Und, Herr, da wardst Du mir so nah,
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Dort überall und hier mir da,
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Wo sich's im Herzen reget,
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Wo dieser Puls Dich schläget.
 
33 
Ich fragte Sonn' und Mond und Stern,
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Dort Himmel und hier Erden:
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»Saht Ihr ihn?« »Sahn ihn nur von fern;
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Sein Hauch nur hieß uns werden;
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Ein Wink aus jener Dunkelheit,
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Wo er sich selbst ist Licht und Kleid,
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Nur dieses Winkes Zeugen,
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Verkünden wir und schweigen.«
 
41 
Umringt von lichter Dunkelheit,
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O Gott, sank ich danieder,
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Fand Alles voll von Dir allweit
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Und Alles öde wieder,
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Und ächzete, Dich nah zu sehn,
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Und, Herz, tief in Dein Herz zu gehn,
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Am Brunnquell aller Gaben
48 
Mich innig satt zu laben.
 
49 
Da sprach statt Sonne mir und Stern
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Ein Bruder mir auf Erden:
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»Was tappst Du da, so matt und fern!
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Hieß er nicht Mensch Dich werden?
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Und hat Dir in Dein Menschenbild
54 
Der Gottheit Kräfte tief verhüllt,
55 
Und sollst am Quell der Gaben
56 
Dich satt, o satt einst laben!«
 
57 
»Er ward, wie Du!« Mein Schöpfer dort,
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Mein Bruder hier auf Erden,
59 
Du wurdest Ich! Ach, immerfort
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Soll ich, was Du bist, werden!
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Dich suchen nicht auf ödem Thron,
62 
Dich schau'n in mir, Dich schau'n im Sohn,
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Daß mir ein Bild der Liebe,
64 
Mir in mir ewig bliebe!
 
65 
Daß ich verklärt ins Angesicht
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Des Sohns den Vater preise
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Und fühle nur, was mir gebricht,
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Und sei mir selbst nicht weise,
69 
Nicht mächtig als in Vaters Kraft,
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Und sang' am Bruder Lieb' und Saft
71 
Und steig' auf dieser Leiter
72 
Der Menschengottheit weiter!
 
73 
Weg, Sonn' und Mond und Siebenstern,
74 
Ihr Flimmer seines Thrones!
75 
Ihr glimmt und leuchtet nur von fern
76 
Dem Fußtritt seines Sohnes.
77 
Sein Bild bin ich! ein Gottesbild,
78 
In diesen Leichnam tief verhüllt,
79 
Und werd' einst aufwärts flammen
80 
Mit ihm, ihm selbst zusammen.
 
81 
Noch sind wir nicht, was einst wir sein,
82 
Sind hier nur Todsgebeine;
83 
Und doch, doch sind wir sein Gebein,
84 
Mein Herz hier ist das seine.
85 
Gesäet jetzt in Gottesland,
86 
Verwes' ich, mir noch unbekannt;
87 
Dort, dort werd' ich mich kennen
88 
Und mich in ihm nur nennen!
 
89 
O Licht, Du Gottes-Menschen-Plan,
90 
Du Schatz der Ewigkeiten!
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Ich liebe Dich und bete an
92 
Und dürste, fortzuschreiten
93 
Zu ihm, der mir nun Alles ist
94 
Und dies mein armes Ich erkiest,
95 
Zu sein, wonach ich thräne
96 
Und mich ermattend sehne.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (31 KB)

Details zum Gedicht „Lied des Lehrers“

Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
96
Anzahl Wörter
524
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das präsentierte Gedicht ist „Lied des Lehrers“ von Johann Gottfried Herder, einem deutschen Dichter der Aufklärungsepoche, der von 1744 bis 1803 lebte.

Beim ersten Eindruck springt dem Leser die Spiritualität und die Fundamentalen Fragen nach Gott und der eigenen Identität ins Auge. Die Intensität der Reflexion und das tiefe Involvieren des lyrischen Ich in seine Gedanken und Gefühle zeichnen das Gedicht aus.

Inhaltlich belichtet das Gedicht die spirituelle Reise des lyrischen Ichs, das offensichtlich als Lehrer tätig ist und sich mit tiefen existenziellen Fragen auseinandersetzt. Das lyrische Ich bittet Gott um Unterweisung, um die Lehren Gottes den 'Menschenkindern' zu vermitteln. Die Gedanken schwanken zwischen Zweifel und Hoffnung, wobei die Gedichteinheiten mit intensiven spirituellen Erfahrungen und einer tiefen Sehnsucht nach Gottes Nähe gefüllt sind.

In der Form präsentiert sich das Gedicht in 12 Strophen mit jeweils acht Versen. Es folgt keinen strengen Reimschema, was die Dynamik der Gedanken und Emotionen reflektiert und eine Konversation oder sogar eine Art Gebet suggeriert. Die Sprache des Gedichts ist typisch für das 18. Jahrhundert. Sie vollzieht sich in einem eher gehobenem, bildhaftem und ausdrucksvollen Stil, der Reflexion und das perspektivische Spiel zwischen dem Lyrischen Ich, der Welt, den Mitmenschen und Gott auf faszinierende Weise inszeniert.

Zum Schluss lässt sich feststellen, dass Herders „Lied des Lehrers“ ein bedeutsames Beispiel der geistlichen Dichtung der Aufklärungsepoche ist. Es thematisiert wichtige Aspekte des menschlichen Daseins und der Suche nach Gott und präsentiert ein lyrisches Ich im Zustand des Zweifelns, Hoffens und Sehnens, das sich nach göttlicher Erleuchtung und nach einer sinnvollen Vermittlung dieser an seine Mitmenschen sehnt.

Weitere Informationen

Johann Gottfried Herder ist der Autor des Gedichtes „Lied des Lehrers“. 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. In der Zeit von 1760 bis 1803 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Der Schriftsteller Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Die Epoche des Sturm und Drang reicht zeitlich etwa von 1765 bis 1790. Sie ist eine Strömung innerhalb der Aufklärung (1720–1790) und überschneidet sich teilweise mit der Epoche der Empfindsamkeit (1740–1790) und ihren Merkmalen. Häufig wird der Sturm und Drang auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet. Die Klassik knüpft an die Literaturepoche des Sturm und Drang an. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das literarische und philosophische Denken im deutschen Sprachraum. Der Sturm und Drang „stürmte“ und „drängte“ als Protest- und Jugendbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale. Ein wesentliches Merkmal des Sturm und Drang ist somit ein Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung. Bei den Vertretern der Epoche des Sturm und Drang handelte es sich vorwiegend um junge Autoren. In den Gedichten wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Autoren aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die alten Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Klassik ist Johann Wolfgang von Goethe (* 28. August 1749 in Frankfurt am Main; † 22. März 1832 in Weimar). Seine Italienreise im Jahr 1786 wird als Beginn der Weimarer Klassik angesehen. Goethe prägte die Klassik ganz wesentlich. Sein Tod im Jahr 1832 kennzeichnet gleichzeitig das Ende dieser Epoche. Wie der Name bereits verrät, liegen das literarische Zentrum und der Ausgangspunkt der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Teilweise wird auch Jena als ein weiteres Zentrum der Literaturepoche angesehen. In Anlehnung an das antike Kunstideal wurde in der Weimarer Klassik nach Vollkommenheit, Harmonie, Humanität und der Übereinstimmung von Inhalt und Form gesucht. Charakteristisch ist ein hohes Sprachniveau und eine reglementierte Sprache. Diese reglementierte Sprache verdeutlicht im Vergleich zum natürlichen Sprachideal des Sturm und Drang mit all seinen Derbheiten den Ausgleich zwischen Gefühl und Vernunft. Die Dichter haben in der Klassik auf Stil- und Gestaltungsmittel aus der Antike zurückgegriffen. Die bekanntesten Schriftsteller der Klassik sind Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe. Weitere bekannte Schriftsteller der Klassik sind Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Die beiden zuletzt genannten arbeiteten aber jeweils für sich. Einen produktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Goethe und Schiller.

Das 524 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 96 Versen mit insgesamt 12 Strophen. Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „An Auroren“, „An den Schlaf“ und „An die Freundschaft“. Zum Autor des Gedichtes „Lied des Lehrers“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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