Liebe von Johann Gottfried Herder

Hätt' ich Menschen-, hätt' ich Engelzungen,
Würde Gottes Lob von mir gesungen
Wie ein Sternen-, wie des Himmels Sang,
Und mir fehlete die Liebe,
Liebe, Liebe:
Ohne Dich sind meine Lieder todter Schellenklang!
 
Hätt' ich Prophezeihung, alle Tiefen
Der Geheimnisse, Erkenntnißtiefen,
Berge zu versetzen, hätt' ich Macht,
10 
Und mir fehlete die Liebe,
11 
Liebe, Liebe:
12 
Ohne Dich wär all mein Glaube, all mein Wissen Nacht!
 
13 
Gäb' ich Armen alle meine Habe,
14 
Gäbe meinen Leib zur Gottesgabe
15 
Preis dem Feuer, lachete der Gluth,
16 
Und mir fehlete die Liebe,
17 
Liebe, Liebe:
18 
Ohne Dich ist Thun und Leiden leere, blinde Wuth!
 
19 
Liebe, Du bist gütig, freundlich, milde,
20 
Neidlos, eiferst nimmer toll und wilde,
21 
Nimmer stolz und ungeberdig nie,
22 
Nicht argwöhnisch, suchst das Meine,
23 
Nicht das Deine:
24 
Nur die Wahrheit, nicht die Lüge, Gutes freuet sie!
 
25 
Alles deckt sie, glaubt sie, hofft sie, duldet,
26 
Duldet Alles, was sie nie verschuldet.
27 
Liebe, Du wirst bleiben, Du allein!
28 
Alle Gaben werden schwinden,
29 
Sprachen schwinden,
30 
Alles Stückwerk der Erkenntniß: Liebe nur wird sein!
 
31 
Stückwerk ist mein Wissen, mein Vergleichen;
32 
Kommt das Ganze, muß das Stückwerk weichen;
33 
Kind ist Kind und klügelt wie ein Kind.
34 
Wird ein Mann an Kindereien
35 
Sich erfreuen?
36 
Er, ein Mann, ist männlicher gesinnt.
 
37 
Jetzt im Räthsel, jetzt im dunkeln Spiegel,
38 
Einst erscheinet uns der Wahrheit Siegel
39 
Wirklich, Angesicht zu Angesicht:
40 
Glaube bleibet, Hoffnung, Liebe,
41 
Doch die Liebe
42 
Ist die größte Aller, Liebe nur weicht nicht.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.7 KB)

Details zum Gedicht „Liebe“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
42
Anzahl Wörter
231
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Liebe“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, einem bedeutenden Philosophen, Theologen und Dichter der deutschen Aufklärung, der von 1744 bis 1803 lebte. Damit lässt sich das Gedicht chronologisch in die Zeit der Aufklärung einordnen.

Auf den ersten Blick scheint das Gedicht eine Hymne auf die Liebe zu sein, die auf alle Bereiche des Lebens angewandt wird: auf Glaube, Wissen, Handeln und Leidensfähigkeit. Die wiederkehrende Phrase „Und mir fehlete die Liebe“ betont die Schlüsselrolle der Liebe in allen Aspekten des Lebens und der Welt.

Inhaltlich betont Herder in seinem Gedicht, dass alle menschlichen Tätigkeiten, egal ob sie religiöser, intellektueller oder humanitärer Natur sind, ohne Liebe leer und bedeutungslos sind. Die wiederholte Aussage „Ohne Dich“ verdeutlicht die Bedeutung von Liebe als unverzichtbarem Bestandteil menschlicher Existenz und Aktivitäten. Herder stellt Liebe als fundamentale menschliche Qualität dar, die Wahrheit, Tugend und Aufrichtigkeit fördert und die persönlichen Handlungen, Denkweisen und Tugenden überdauert.

Die formalen Elemente des Gedichts unterstützen seine Botschaft und seinen Inhalt. Jede der sieben Strophen des Gedichts besteht aus sechs Versen, in denen Herder die Bedeutung und die Eigenschaften der Liebe aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Die prägnante und eindringliche Sprache, die Verwendung von Metaphern und die Verknüpfung von einzelnen Strophen durch wiederkehrende Phrasen tragen zu seiner emotionalen und geistigen Tiefe bei. Damit schafft Herder eine eindrucksvolle Ode an die Liebe, die sowohl menschliche Lebenserfahrung als auch metaphysische Nachdenklichkeit reflektiert.

Zusammenfassend ist Herders Gedicht „Liebe“ eine tiefsinnige Reflexion über die fundamentalen Wirkungen und die unersetzliche Stellung der Liebe im menschlichen Leben und in der Welt, verpackt in eine ansprechende lyrische Form. Herders klare und überzeugende Sprache und sein reflektierter Umgang mit dem Thema Liebe machen das Gedicht zu einem eindrucksvollen literarischen Zeitdokument der Aufklärung.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Liebe“ ist Johann Gottfried Herder. Geboren wurde Herder im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen). In der Zeit von 1760 bis 1803 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. Der Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Die Schriftsteller der Epoche des Sturm und Drangs waren häufig unter 30 Jahre alt. Um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Vorschein zu bringen, wurde im Besonderen darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die Nachahmung und Idealisierung von Künstlern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die alten Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Mit dem Hinwenden Goethes und Schillers zur Weimarer Klassik endete der Sturm und Drang.

Die Literaturepoche der Weimarer Klassik dauerte von 1786 bis 1832 an. Zentrale Vertreter dieser Literaturepoche waren Goethe und Schiller. Die zeitliche Abgrenzung orientiert sich dabei an dem Schaffen Goethes. So wird dessen erste Italienreise im Jahr 1786 als Beginn der deutschen Klassik angesehen, die dann mit seinem Tod im Jahr 1832 ihr Ende nahm. Sowohl die Bezeichnung Klassik als auch die Bezeichnung Weimarer Klassik sind gebräuchlich. Das literarische Zentrum dieser Epoche lag in Weimar. Statt auf Konfrontation und Widerspruch wie noch in der Aufklärung oder im Sturm und Drang strebte die Klassik nach Harmonie. Die wichtigsten Werte sind Menschlichkeit und Toleranz. Die Klassik orientierte sich an klassischen Vorbildern aus der Antike. Ziel der Literaturepoche der Klassik war es die ästhetische Erziehung des Menschen zu einer „charakterschönen“ Persönlichkeit voranzutreiben. In der Weimarer Klassik wird eine einheitliche, geordnete Sprache verwendet. Kurze, allgemeingültige Aussagen sind häufig in Werken der Weimarer Klassik zu finden. Da man die Menschen früher mit der Kunst und somit auch mit der Literatur erziehen wollte, legte man großen Wert auf formale Ordnung und Stabilität. Metrische Ausnahmen befinden sich häufig an Stellen, die hervorgehoben werden sollen. Die Hauptvertreter der Klassik sind Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder. Einen künstlerischen Austausch im Sinne einer gemeinsamen Arbeit gab es jedoch nur zwischen Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe.

Das vorliegende Gedicht umfasst 231 Wörter. Es baut sich aus 7 Strophen auf und besteht aus 42 Versen. Der Dichter Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Amor und Psyche“, „An Auroren“ und „An den Schlaf“. Zum Autor des Gedichtes „Liebe“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 413 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Johann Gottfried Herder

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Johann Gottfried Herder und seinem Gedicht „Liebe“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Johann Gottfried Herder (Infos zum Autor)

Zum Autor Johann Gottfried Herder sind auf abi-pur.de 413 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.