Gebrauch leiblicher Gaben von Johann Gottfried Herder

Wie klein, wie klein ist doch Dein Herz,
O Mensch! Bedenk, Du trägest Schmerz,
Warum? um zeitlich Gut!
Die wahre, wahre Seligkeit,
Die regt Dich nicht in Lieb' und Leid!
 
Was hilft Dir Reichthum, Lust und Ehr'?
Sie sind nur Unruh und Beschwer,
Ist nicht Dein Herz in Ruh.
Ertrink in Bächen Milch und Wein,
10 
Die Qual wird immer Qual Dir sein!
 
11 
O wie's so schwer zu glauben ist,
12 
Daß Geist und nicht der Mund genießt,
13 
Daß Geist es sei allein,
14 
Der sieht im Aug', im Ohre hört
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Und sich von Gott und Geist nur nährt!
 
16 
O wie's so schwer zu glauben ist,
17 
Daß, wer nur Hüll' und Schalen frißt,
18 
Nicht Mensch sei, sondern Vieh!
19 
Daß Saft und Kraft im Innern wohnt
20 
Und nur den Hindurchbrecher lohnt!
 
21 
Ja, Alles, Alles ist von Gott!
22 
Er ist in Lieb', er ist in Noth,
23 
Ist Gott in Mensch und Stein!
24 
Nur, Blinder, soll er Dir im Stein,
25 
Wie oder Menschengott Dir sein?
 
26 
Ja, Menschengott! Herr Jesu Christ,
27 
Der Du, was Gott und Vater ist,
28 
Uns, unser Bruder, zeigst,
29 
Erbarme Dich! von Deinem Geist
30 
Gieb Jedem, der wie Du sich heißt!
 
31 
Daß Mensch in menschlicher Natur
32 
Nur schmecke Gott! daß Jeder nur
33 
Dich fühle, Jesus Christ,
34 
Der Menschen Bruder, und so frei
35 
Und rein wie Gott und Christus sei!
 
36 
Daß ich in aller Erde Gut
37 
Nur fühle Gott! daß all mein Blut
38 
Nur schlag' und ruh' in Gott,
39 
Daß jedes Menschenangesicht
40 
Mir spreche, was mir Christus spricht!
 
41 
Daß alle meines Lebens Bahn
42 
Sich schlängle nur in Gottes Plan,
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Daß Licht und Finsterniß
44 
Und Heck' und Dorn und Berg und Thal
45 
Mir heiße Gottes Berg und Thal!
 
46 
O Gott, wie wird mein Geist so rein
47 
Und wie die helle Sonne sein,
48 
Wenn ich in Allem Dich,
49 
Wenn ich in Tief' und in der Höh,
50 
In Ruh und Stürmen Gott nur seh'!
 
51 
O Gott, wie wird mein Geist so rein
52 
Und wie die warme Sonne sein,
53 
Seh' ich alleine Dich,
54 
Wenn Sünder, Lästrer, Bettler, Kind
55 
Mir Glieder Jesus' Christus' sind!
 
56 
Und munter werd' ich sein und froh,
57 
Nicht kriechen an der Erde so,
58 
Nicht Wurm der Erde sein,
59 
Wenn Sonnenstrahl mir oder Wind,
60 
Herr, Deine, Deine Boten sind,
 
61 
Und ich auf Sonnenstrahl und Wind
62 
Mich immer bei Jehovah find'
63 
Und schau' zu ihm empor
64 
Und in der Bläue höhrer Höh
65 
Nur seine Stirn und Willen seh',
 
66 
Und mir in Lebens Labyrinth
67 
Nur seine Willen Diener sind,
68 
Und er mir Weg und Steg,
69 
Und mir in Bruders Angesicht
70 
Nur Jesus, Jesus Christus spricht!
 
71 
O klein, o klein ist unser Herz,
72 
Daß es um Schalen träget Schmerz,
73 
Um elend, zeitlich Gut!
74 
Sei, Vater! Sohn! sei Du mir Geist,
75 
In Allem, was Dich, Herr, geneußt!
 
76 
Und laß mich ringen, wanken nicht,
77 
Wenn niedre Sehnsucht an mich ficht,
78 
Nur Erdeseligkeit!
79 
Gott ist im Wurm und ist im Stein,
80 
Ich Mensch soll christusselig sein!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.2 KB)

Details zum Gedicht „Gebrauch leiblicher Gaben“

Anzahl Strophen
16
Anzahl Verse
80
Anzahl Wörter
473
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht stammt aus der Feder von Johann Gottfried Herder, einem bedeutenden Dichter und Philosophen der deutschen Aufklärung, der von 1744 bis 1803 lebte. Mit seiner Poesie war er maßgeblich an der Formung der Sturm und Drang Epoche beteiligt.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass das Gedicht tief religiös ist und eine moralische Botschaft zu vermitteln scheint. Es besteht aus insgesamt 16 Strophen zu je fünf Versen und insgesamt 80 Versen.

Im Grunde geht es in diesem Gedicht um den Kontrast zwischen materiellen und spirituellen Werten. Das lyrische Ich beschreibt die Kleinheit des menschlichen Herzens, welches Schmerz aufgrund von materiellen Verlusten trägt und dabei die wahren spirituellen „Freuden“, sprich Seligkeiten, übersieht. Es zeigt die Fähigkeit des Menschen, sich in profanen Dingen wie Reichtum, Lust und Ehre zu verlieren, die nur Unruhe und Leid hervorrufen, wenn das Herz nicht in Ruhe ist.

Das Gedicht unterstreicht die Bedeutung des Geistes, der wahrhaftigen Freude und Erfüllung gegenüber den oberflächlichen Genüssen des Lebens und der Dominanz des materiellen. Es stellt die Anerkennung und Annäherung an Gott als höchste und reinste Quelle der Zufriedenheit dar. Das lyrische Ich strebt danach, Gott in allem zu fühlen und nur in ihm Ruhe und Gelassenheit zu finden.

Formal gesehen ist das Gedicht in traditionellem Reim und Metrik gehalten, wobei jede Strophe in einem regelmäßigen Rythmus von fünf Zeilen geschrieben ist. Die Sprache des Gedichts ist einfach und direkt, mit starkem Einsatz von rhetorischen Fragen und Wiederholungen, um die Botschaft zu verstärken.

Insgesamt ist das Gedicht eine tiefsinnige Betrachtung über die Prioritäten des Lebens und darüber, was dem menschlichen Herzen wirklich Freude und Frieden bringt. Es ist ein spiritueller Appell, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und mit dem Göttlichen verbunden zu bleiben. Es ist eine Reflektion der philosophischen und religiösen Überzeugungen Herders, die den Menschen als Teil des Ganzen und Gott als omnipräsenten Geist in allem sehen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Gebrauch leiblicher Gaben“ des Autors Johann Gottfried Herder. Herder wurde im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Zwischen den Jahren 1760 und 1803 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zu. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Zwischen den Literaturepochen Empfindsamkeit und Klassik lässt sich in den Jahren von 1765 bis 1790 die Strömung Sturm und Drang einordnen. Zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit sind häufige Bezeichnungen für diese Literaturepoche. Der Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Die Schriftsteller der Epoche des Sturm und Drangs waren häufig unter 30 Jahre alt. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde im Besonderen darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die alten Werke vorheriger Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Aber dennoch wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Mit seinen beiden bedeutenden Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Die Weimarer Klassik war beeinflusst worden durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Literaturepoche der Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit der Italienreise Goethes im Jahr 1786 und mit dem Tod Goethes 1832 eingrenzen. Die Weimarer Klassik wird häufig nur als Klassik bezeichnet. Beide Bezeichnungen werden in der Literatur genutzt. Menschlichkeit, Toleranz und Übereinstimmung von Mensch und Natur, von Individuum und Gesellschaft sind die Ideale der Klassik. Im Zentrum des klassischen Kunstkonzepts steht das Streben nach harmonischem Ausgleich der Gegensätze. In der Weimarer Klassik wird eine sehr einheitliche, geordnete Sprache verwendet. Allgemeingültige, kurze Aussagen (Sentenzen) sind häufig in Werken der Weimarer Klassik zu finden. Da man die Menschen früher mit der Kunst und somit auch mit der Literatur erziehen wollte, legte man großen Wert auf Stabilität und formale Ordnung. Metrische Ausnahmen befinden sich oftmals an Stellen, die hervorgehoben werden sollen. Die berühmtesten Dichter der Klassik sind: Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried von Herder und Christoph Martin Wieland.

Das 473 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 80 Versen mit insgesamt 16 Strophen. Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Das Glück“, „Das Kind der Sorge“ und „Das Orakel“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Gebrauch leiblicher Gaben“ weitere 413 Gedichte vor.

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