Der Wahnsinn von Rainer Maria Rilke

Sie muß immer sinnen: Ich bin … ich bin …
Wer bist du denn, Marie?
Eine Königin, eine Königin!
In die Kniee vor mir, in die Kniee!
 
Sie muß immer weinen: Ich war … ich war …
Wer warst du denn, Marie?
Ein Niemandskind, ganz arm und bar,
und ich kann dir nicht sagen wie.
 
Und wurdest aus einem solchen Kind
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eine Fürstin, vor der man kniet?
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Weil die Dinge alle anders sind,
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als man sie beim Betteln sieht.
 
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So haben die Dinge dich groß gemacht,
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und kannst du noch sagen wann?
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Eine Nacht, eine Nacht, über eine Nacht, –
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und sie sprachen mich anders an.
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Ich trat in die Gasse hinaus und sieh:
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die ist wie mit Saiten bespannt;
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da wurde Marie Melodie, Melodie …
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und tanzte von Rand zu Rand.
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die Leute schlichen so ängstlich hin,
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wie hart an die Häuser gepflanzt, –
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denn das darf doch nur eine Königin,
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daß sie tanzt in den Gassen: tanzt! …
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.6 KB)

Details zum Gedicht „Der Wahnsinn“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
24
Anzahl Wörter
152
Entstehungsjahr
1906
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Der Wahnsinn“ stammt von dem Dichter Rainer Maria Rilke, der von 1875 bis 1926 lebte. Damit lässt es sich der Epoche des Symbolismus zuordnen, in der häufig eine stark lyrische, bildhafte Sprache verwendet wurde.

Der erste Eindruck des Gedichts ist sehr intensiv und emotional. Es wird in der dritten Person von einer Frau namens Marie erzählt, die anscheinend zwischen Wahnsinn und Realität schwankt. Man erhält den Eindruck, dass sie eine sehr komplexe Persönlichkeit hat, die mit ihrer Vergangenheit und ihrem gegenwärtigen Status zu kämpfen hat.

Der Inhalt lässt sich grob so zusammenfassen: In der ersten Strophe drückt das lyrische Ich den immerwährenden Gedanken aus „Ich bin ... ich bin ...“ und behauptet, sie sei eine Königin. Der Hörer, ein angesprochener Du, hinterfragt diese Aussage („Wer bist du denn, Marie?“), worauf sie beharrlich behauptet, eine Königin zu sein. In der zweiten Strophe wechselt der Fokus auf Maries Vergangenheit („Ich war ... ich war ...“). Sie erklärt, dass sie ein „Niemandskind“ war, „ganz arm und bar“. In der dritten Strophe stellt das lyrische Ich die Verwandlung von Marie in eine (scheinbare) Fürstin dar, die Ausdruck ihrer veränderten Wahrnehmung ist. In der vierten und letzten Strophe beschreibt das lyrische Ich, wie Maries Wahrnehmung der Realität sich radikal ändert. Marie tritt in die Gasse hinaus, in die sie nun wie eine Melodie hineintanzt. Die Leute scheinen Angst vor ihrer Ausstrahlung zu haben und verstecken sich an den Häuserwänden.

Formal handelt es sich bei dem Gedicht um drei vierzeilige Strophen, gefolgt von einer zwölfzeiligen Strophe. Die Form des Gedichts spiegelt die emotionale Entwicklung des lyrischen Ichs wider. Es beginnt mit kurzen, prägnanten Aussagen, die Maries Gedanken und Emotionen einfangen, und endet mit einer langen, fließenden Bewegung, die ihre Tanzbewegungen veranschaulicht.

In Bezug auf die Sprache verwendet Rilke eine sehr expressive und bildhafte Sprache, die dazu dient, die Gefühle und Gedanken von Marie darzustellen. Der wiederholte Gebrauch von Ellipsen („Ich bin ... Ich bin ...“, „Ich war ... ich war ...“) dient dazu, Maries Gedankenstrom zu betonen und den Leser in ihre geistige Welt einzuführen. Der Wechsel von Vergangenheit zu Gegenwart und die Unterteilung in unterschiedlich lange Strophen tragen dazu bei, das Gedicht dynamisch und lebendig zu gestalten.

Zusammenfassend weist Rilkes Gedicht „Der Wahnsinn“ eine starke emotionale Intensität auf, die durch die Kombination von Form, Sprache und Inhalt erreicht wird. Es lädt den Leser ein, in die komplexen Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs einzutauchen und seine veränderte Wahrnehmung von Realität und Identität nachzuvollziehen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der Wahnsinn“ des Autors Rainer Maria Rilke. Rilke wurde im Jahr 1875 in Prag geboren. 1906 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Berlin / Leipzig, Stuttgart. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 24 Versen mit insgesamt 4 Strophen und umfasst dabei 152 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Rainer Maria Rilke sind „Abend in Skaane“, „Absaloms Abfall“ und „Adam“. Zum Autor des Gedichtes „Der Wahnsinn“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 338 Gedichte vor.

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