Der Verzweifelte von Klabund

Noch nie hat mir der Herbst so weh getan,
daß ich mich ohne Freundin blaß begnüge.
Am Bahnhof steh’ ich oft und seh’ die Züge
einlaufen nach des Kursbuch’s rotem Plan.
 
Hier kommt ein Zug um fünf und dort um sechs.
Der aus Polzin. Und der aus Samarkand.
So oft ich mich an eine Frau gewandt,
entfloh sie mit dem Zeichen höchsten Schrecks.
 
Man wundert sich, daß ich so kopflos bin
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und daß ich ohne Beine gehen kann,
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und daß ich ohne Männlichkeit ein Mann,
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und daß ich ohne Sinnlichkeit ein Sinn.
 
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2
 
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Mich liebt kein Mensch. Ich sitze hier beim Tee.
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Es schmerzt das Herz, die Niere tut mir weh.
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Die Mädchen, welche mich geschminkt begrüßen,
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sie sind mit großer Vorsicht zu genießen.
 
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Sie stellen mit des Abenteurers Buntheit
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Anforderung an unsre Gesundheit.
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Die ist mir heilig. Etwas andres nicht.
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Kein Mensch, kein Tier, kein Stern und kein Gedicht.
 
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Wenn ich hier Verse reimend niederschreibe,
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geschieht es nur zu meinem Zeitvertreibe.
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Man glaube nicht an Absicht oder Zweck.
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Ich bin ein hirnlich infizierter Dreck.
 
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Der fiel von einem Pferd, das fern enttrabt.
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Ich werde weder gern noch sonst gehabt.
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Man sieht durch mich hindurch. Man geht an mir vorbei.
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Und niemand hört des Stummen Klageschrei.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.2 KB)

Details zum Gedicht „Der Verzweifelte“

Autor
Klabund
Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
29
Anzahl Wörter
206
Entstehungsjahr
1927
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit

Gedicht-Analyse

Das behandelte Gedicht ist „Der Verzweifelte“ von Klabund, einem deutschen Schriftsteller und Dichter, der am Anfang des 20. Jahrhunderts lebte und arbeitete. Es handelt sich bei diesem Gedicht um ein typisches Werk der Moderne, genauer gesagt, der expressionistischen Lyrik.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht sehr stimmungsvoll und dunkel, es erweckt den Eindruck von Einsamkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Die Ich-Perspektive vertieft diesen Eindruck noch und führt dazu, dass man als Leser sehr nahe an den Gefühlen und Sorgen des lyrischen Ichs ist.

Der Inhalt des Gedichts dreht sich um das lyrische Ich, welches sich in einer tiefen Krise befindet. Es fühlt sich einsam, verloren und verzweifelt. Die Erwähnung des Herbstes und der Bahnhöfe könnten Symbole für Abschied und Vergänglichkeit sein. Es kommen Gefühle von Selbstentfremdung zum Ausdruck, wie in den Versen 9-12, in denen das lyrische Ich von sich selbst spricht, als wäre es ein anderer Mensch. In den Strophen 6 und 7 kommt dann eine vernichtende Selbstkritik zum Ausdruck, in der das lyrische Ich sich selbst als ohne Bedeutung und Wert herabsetzt.

Formal besteht das Gedicht aus acht Strophen mit jeweils vier Versen – bis auf die vierte Strophe, die nur aus einer Zahl besteht. Diese Abweichung könnte einerseits eine Art Zwischenakt in dem Gedicht darstellen, andererseits könnte die „2“ auch eine symbolische Bedeutung haben, auf die wir nicht ohne Weiteres schließen können. Die Versform ist ein einfacher Vierheber, mit einem einfachen Reimschema (Kreuzreim), das aus einer alternierenden Anordnung von männlichen und weiblichen Kadenzen besteht.

Sprachlich nutzt Klabund viele Metaphern und Vergleiche. Die Worte sind sorgfältig gewählt und erzeugen einen speziellen Rhythmus und Klang, der das allgemeine Gefühl des Gedichts unterstützt. Die Worte sind stark und emotional aufgeladen, was auf eine expressionistische Herangehensweise hinweist.

Zusammenfassend kann man sagen, dass „Der Verzweifelte“ ein äußerst emotionales und intimes Gedicht ist, das Gefühle von Einsamkeit und Selbstzweifel auf eindringliche Weise vermittelt. Es ist ein typisches Beispiel für die Lyrik der Moderne und der Expressionisten. Die dunkle und pessimistische Stimmung besitzt eine intensive Wirkung und ermöglicht dem Leser intensive Einblicke in die Gefühlswelt des lyrischen Ichs.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der Verzweifelte“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Klabund. Im Jahr 1890 wurde Klabund in Crossen an der Oder geboren. Im Jahr 1927 ist das Gedicht entstanden. Berlin ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit zuordnen. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epoche ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das Gedicht besteht aus 29 Versen mit insgesamt 8 Strophen und umfasst dabei 206 Worte. Die Gedichte „Akim Akimitsch“, „Altes Reiterlied“ und „Ausmarsch“ sind weitere Werke des Autors Klabund. Zum Autor des Gedichtes „Der Verzweifelte“ haben wir auf abi-pur.de weitere 139 Gedichte veröffentlicht.

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