Der Säugling von Johann Gottfried Herder

Wer ist der kleine Sklave, der in Banden
Aus diesem frühen Sarge Klagen weint?
Ein Mensch? O macht ihn frei, macht frei ihn von den Banden,
Gönnt seinen Seufzern Raum; die hemmt kein Feind.
Der Wurm kann sich im Staube winden;
Das Lamm fleht seinen Mörder an;
Und ihn umfesseln Binden,
Kaum daß er athmen kann.
 
O Weltankömmling, deinen zarten Händen
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Drückt dieses Band das Loos des Lebens ein;
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Um deinen Pilgrimsweg von Sarg zu Sarg zu enden,
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Mußt du der Sklaven ewger Sklave seyn.
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Dies Trauerlied wars, das im Weben
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Die Parze dir zum Schicksal sang,
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Da sie das Band zum Leben
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Als Kette um dich schlang.
 
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Wenn du einmal im Chaos von Ideen
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Arbeitest, Fesseln fühlst und aufwärts ringst,
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Wenn du Schiffbrüchig einst, um Sonn’ und Tag zu sehen,
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Vom Abgrund wie mit Erz beladen dringst;
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Und schaust nach neuen Ruhmesbahnen
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Kühn wie ein Streitender, und schön
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Des Ueberwinders Fahnen
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Vor deinen Augen wehn.
 
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Dich lockt ein höher Ziel und aus der Seele
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Stürmt in die Flügel dir des Adlers Muth;
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Du wägst den schweren Leib, entschwingst den Staub der Höle
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Und immer reiner lockt der Sonne Glut;
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Ach nicht vom ersten Morgensterne
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Vom Felsen schon blickst du hinab;
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Und schaust in naher Ferne
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Den Erdenball, dein Grab.
 
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Dann pocht dein Herz, daß die im Staube wohnen,
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Sind Erdenvolk, sind Staub und Finsterniß.
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Vielleicht erdrückte die Gedanken-Millionen
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Der erste Zug, der dich zum Lichte riß;
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Bis jetzt der sanfte Schwung der Wiege
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Mit Lethens Wellen dich besprengt
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Und dir zum Thoren-Kriege
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Ein glücklich Phlegma schenkt.
 
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Ich fühle noch dein offnes Haupt; ich höre
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Wie in ihm Uhr und Puls und Seele schlägt;
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Sprich, du sein Genius, ob sich durch eigne Schwere
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Zu seinem Unglück einst dies Rad bewegt?
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Ob in den zart-verschloßnen Kammern
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Einst Rache selbst dem Schicksal glüht;
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Die endlich doch mit Jammern
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Ihr Blut gen Himmel sprüht.
 
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Nein, Säugling, trink’ in deine Adern Säfte,
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Ruh’ in dein Herz und Licht in dein Gehirn.
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Aus deiner Kindheit jetzt entsprießen Manneskräfte,
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Doch glänz’ im Manne noch des Kindes Stirn.
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Kein früher Zug aus Mutterbrüsten
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Sei dir ein Quell von künftger Pein,
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Von Trug und Stolz und Lüsten,
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Die Gift und Wermuth streun.
 
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Und mußt du dann der Unschuld Ketten küssen,
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Wehklagen selbst in deinem Festgesang;
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Mußt tief das stolze Kleid des bösen Thoren grüssen,
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Auf deinem Schädel brennet Fluch statt Dank;
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Es nagt dich, statt der Menschheit Retter,
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Ein feiles Klepperthier zu seyn,
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Dem aller Wahrheit Spötter
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Staub in das Auge streun;
 
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Dich quält der Freunde Blick und tummet Weisen
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Markloser Trost durchstachelt deine Brust;
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Die Welt wird enge dir; erstickte Seufzer preisen
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Des letzten vor des ersten Tages Lust;
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O Kind, wenn dann im tiefsten Herzen
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Der Schwermuth schärfster Pfeil dich traf;
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Dann wünsch’ ich deinen Schmerzen
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Des Säuglings frommen Schlaf.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30 KB)

Details zum Gedicht „Der Säugling“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
72
Anzahl Wörter
464
Entstehungsjahr
1787
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Säugling“ wurde von Johann Gottfried Herder (1744-1803) verfasst. Herder war einer der bedeutsamsten Vertreter der Weimarer Klassik und der Literatur der Aufklärung.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht wie eine philosophische Reflexion auf das Leben und den Prozess des Menschseins. Es scheint, als ob Herder den Kreislauf des Lebens – von der Geburt bis zum Tod – und die dazugehörigen existenziellen Erfahrungen darstellt.

Im ersten Teil des Gedichts beschreibt Herder das Neugeborene als „kleinen Sklaven“, der in „Banden“ liegt und weint. Diese Metapher deutet darauf hin, dass das lyrische Ich den menschlichen Lebensweg mit seinen Beschränkungen und Pflichten als eine Form von Sklaverei ansieht. Der neu geborene Säugling ist unfähig, seine Situation zu beeinflussen und ist damit der Sklave seines eigenen Schicksals.

Im weiteren Verlauf des Gedichts gibt Herder einen detaillierten Einblick in die Stadien und Herausforderungen des Menschenlebens. Es wird deutlich, dass das lyrische Ich den Menschen als kämpfend und strebend ansieht, stets bemüht, seine Situation zu verbessern, und stets bereit, die Ketten seiner Geburt zu sprengen. Dieses Streben ist es, was den Menschen letztendlich zu seinem Bestimmungsort, dem Tod, führt.

Auffallend ist die Form des Gedichts: es ist in acht Versen pro Strophe organisiert und die strikte Form betont die Ordnung und Struktur des Lebensprozesses. Die Sprache ist klar und präzise, die Worte sind kraftvoll gewählt und transportieren die emotionale Tiefe und Komplexität des menschlichen Lebens.

Insgesamt nehme ich das Gedicht als eine tiefgreifende meditative Reflexion auf das menschliche Leben und den Tod wahr. Herder drückt die existenzielle Unausweichlichkeit des Lebensprozesses aus und zeigt gleichzeitig das Streben des Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung. Es ist ein Gedicht, das trotz seiner scheinbaren Dunkelheit doch Hoffnung und Mut durch die Darstellung des menschlichen Geistes und dessen Stärke vermittelt.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Der Säugling“ ist Johann Gottfried Herder. Herder wurde im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. 1787 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Gotha. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang ist eine Strömung in der deutschen Literaturgeschichte, die häufig auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet wird. Die Epoche ordnet sich nach der Literaturepoche der Empfindsamkeit und vor der Klassik ein. Sie lässt sich auf die Zeit zwischen 1765 und 1790 eingrenzen. Die Epoche des Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen das gesellschaftliche System und die Prinzipien der Aufklärung wendeten. Die Vertreter des Sturm und Drang waren häufig junge Autoren im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. In den Gedichten wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die alten Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Aber dennoch wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Auf zeitlicher Ebene lässt sich die Weimarer Klassik mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 und mit Goethes Tod 1832 eingrenzen. Zwei gegensätzliche Anschauungen hatten das 18. Jahrhundert bewegt. Die Aufklärung und die gefühlsbetonte Strömung Sturm und Drang. Die Weimarer Klassik ist eine Verschmelzung dieser beiden Elemente. Wie der Name bereits verrät, liegen das literarische Zentrum und der Ausgangspunkt der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Teilweise wird auch Jena als ein weiteres Zentrum dieser Literaturepoche angesehen. Die Vertreter der Klassik wollten die antiken Stoffe aufleben lassen. Mit der antiken Kunst beschäftigte sich Goethe während seiner Italienreise. Die Antike gilt nun als Ideal, um Harmonie und Vollkommenheit zu erreichen. In der Lyrik haben die Dichter auf Stil- und Gestaltungsmittel aus der Antike zurückgegriffen. So war beispielsweise die streng an formale Kriterien gebundene Ode besonders geschätzt. Darüber hinaus verwendeten die Dichter eine pathetische, gehobene Sprache. Die populärsten Schriftsteller der Klassik sind Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Weitere Schriftsteller der Klassik sind Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder. Die beiden zuletzt genannten arbeiteten aber jeweils für sich. Einen konstruktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller.

Das 464 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 72 Versen mit insgesamt 9 Strophen. Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Bilder und Träume“, „Das Flüchtigste“ und „Das Gesetz der Welten im Menschen“. Zum Autor des Gedichtes „Der Säugling“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 413 Gedichte vor.

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