Das letzte Stündlein von Karl Gerok

In einer seltnen Kirche war ich heut,
Da sah ich betend Gottes Herrlichkeit.
Von einer Andachtsstunde komm ich her,
Mein lebenlang vergess' ich sie nicht mehr.
Die Kirche war kein hoher Säulendom,
Durchwogt vom farbenreichen Menschenstrom.
Zur Andacht rief kein voller Glockenklang,
Nicht Orgelton erscholl, noch Chorgesang.
Die Kirche war ein schmucklos Kämmerlein,
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Durch trübe Scheiben fiel der Abendschein.
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Als betende Gemeinde standen wir
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Geschart im Kreis zu dreien oder vier.
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Ein schlecht gezimmert Bettgestelle war,
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Im engen Kirchlein Kanzel und Altar.
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Ein sterbend Mütterlein war Priesterin,
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Die feierte ihr letztes Stündlein drin.
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Seit siebzig Jahren trug sie ihre Last,
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Nun kam der Tag der längst ersehnten Rast.
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Durch manches Weltgedränge schlug sie sich;
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Den letzten Kampf nun stritt sie ritterlich.
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Sie sprach: Mein Gott, in Frieden fahr' ich hin,
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Christ ist mein Leben, Sterben, mein Gewinn.
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Dann lag sie da in selig matter Ruh'
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Und nickte leis' noch unsrem Beten zu.
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Wir lauschten still den schweren Atemzug,
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Dem seltnen Pulse, der schon stockend schlug.
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Jetzt kam des Todes ernste Majestät,
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Wir schauderten, von seinem Hauch umweht.
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Sein Schatten traf entstellend ihr Gesicht,
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Ihr Mund ward fremd und kraß der Augen Licht.
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Ein Seufzer noch, ein letzter Herzensstoß:
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Nun war's vollbracht, der bange Geist war los.
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Durchs offne Fenster säuselte gelind
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Gleich Engelsfittichen ein Abendwind.
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Ins Stüblein floß der Sonne letzter Glanz,
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Da ward ihr Anblick wieder Friede ganz.
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Wie Wachs die Stirn, das volle Haar ergraut:
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Doch lag sie schön wie eine Himmelsbraut
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Ihr Herz gebrochen, ihre Kraft dahin:
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Doch lag sie stolz wie eine Siegerin.
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Wir standen da, vom Preise Gottes voll,
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Und sprachen leis: wer so stirbt, der stirbt wohl.
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Dann deckten wir ihr Haupt mit Linnen zu,
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Und wünschten ihr die ew'ge Himmelsruh'.
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Ins Gäßlein stieg ich nieder, heimzugehn,
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Da trieb's die Welt, als wäre nichts geschehn.
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Der Nachbar spaltete sein Restlein Holz,
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Der Sperling lärmt' im Glanz des Abendgolds;
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Die Kinder warfen lustig ihren Ball,
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Von ferne rasselte der Räder Schall;
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Hier unten ging der laute Strom der Zeit,
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Und oben floß die stille Ewigkeit.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.7 KB)

Details zum Gedicht „Das letzte Stündlein“

Autor
Karl Gerok
Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
52
Anzahl Wörter
340
Entstehungsjahr
1815 - 1890
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Das letzte Stündlein“ wurde von Karl Gerok verfasst, einem bedeutenden Vertreter der deutschen Biedermeierlyrik, der von 1815 bis 1890 lebte. Dieses Gedicht kann demnach im 19. Jahrhundert zeitlich eingeordnet werden, wobei Gerok bis ins hohe Alter literarisch aktiv war, was eine genaue zeitliche Einordnung erschwert.

Schon beim ersten Lesen des Gedichts wird die ruhige und bedächtige Stimmung greifbar. Trotz des schweren Themas Tod, mit dem sich das Gedicht beschäftigt, verbreitet es einen gewissen Frieden und eine Art von Würdigung. Der Leser wird in eine kleine, private und geradezu heilige Szene geführt, nämlich die Sterbestunde einer alten Frau, die in einem einfachen, schmucklosen Raum und umgeben von einigen wenigen Angehörigen oder Freunden stattfindet.

Gerok erzählt die beeindruckende Geschichte dieser Frau, die nach einem harten und fordernden Leben nun an der Schwelle zum Tod steht und ihre letzten Momente in Frieden und mit großer Würde erlebt. Mit ihren letzten Worten drückt sie ihre Zuversicht und ihren Glauben an eine bessere Zukunft jenseits des Todes aus. Ihre Umgebung erscheint in stiller Andacht, fast als wäre es ein kleiner, privater Gottesdienst.

In Bezug auf die Form und Sprache weist das Gedicht eine einfache und klare Struktur auf, obwohl es auch bilderreiche Sprache und starke visuelle und sinnliche Bilder enthält. Gerok wählt im Allgemeinen eine einfache Sprache, die jedoch effektiv die tiefen und schweren Gefühle und Erfahrungen vermittelt, die mit dem Tod zusammenhängen. Mit seinen Bildern gelingt es ihm, eine intensive Stimmung der Ruhe, des Friedens und der Würde zu erzeugen. Diese bildhafte Sprache und die eindrucksvolle Beschreibung der Sterbeszene, wie etwa der veränderten Gesichtszüge und des stockenden Atems, machen das Gedicht zu einem starken und emotional bewegenden Text.

Das Gedicht endet auf eine fast tröstliche Weise: Obwohl das Leben in ihrer Umgebung unvermindert weitergeht, hat die sterbende Frau ihren Frieden gefunden und hat, metaphorisch gesprochen, die „stille Ewigkeit“ erreicht. So vermittelt das Gedicht trotz des traurigen Themas auch eine Botschaft der Hoffnung und des ewigen Friedens nach dem Tod. Insgesamt ist „Das letzte Stündlein“ ein kraftvolles und berührendes Gedicht, das sich auf eindringliche Weise mit dem Tod auseinandersetzt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Das letzte Stündlein“ des Autors Karl Gerok. Gerok wurde im Jahr 1815 in Vaihingen an der Enz geboren. In der Zeit von 1831 bis 1890 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus, Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das 340 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 52 Versen mit nur einer Strophe. Karl Gerok ist auch der Autor für Gedichte wie „Kindergottesdienst“, „Trauerstunden“ und „Über ein Kleines und alles wird Staub“. Zum Autor des Gedichtes „Das letzte Stündlein“ haben wir auf abi-pur.de keine weiteren Gedichte veröffentlicht.

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