Der Stylit von Rainer Maria Rilke

Völker schlugen über ihm zusammen,
die er küren durfte und verdammen;
und erratend, daß er sich verlor,
klomm er aus dem Volksgeruch mit klammen
Händen einen Säulenschaft empor,
 
der noch immer stieg und nichts mehr hob,
und begann, allein auf seiner Fläche,
ganz von vorne seine eigne Schwäche
zu vergleichen mit des Herren Lob;
 
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und da war kein Ende: er verglich;
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und der andre wurde immer größer.
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Und die Hirten, Ackerbauer, Flößer
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sahn ihn klein und außer sich
 
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immer mit dem ganzen Himmel reden,
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eingeregnet manchmal, manchmal licht;
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und sein Heulen stürzte sich auf jeden,
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so als heulte er ihm ins Gesicht.
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Doch er sah seit Jahren nicht,
 
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wie der Menge Drängen und Verlauf
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unten unaufhörlich sich ergänzte,
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und das Blanke an den Fürsten glänzte
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lange nicht so hoch hinauf.
 
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Aber wenn er oben, fast verdammt
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und von ihrem Widerstand zerschunden,
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einsam mit verzweifeltem Geschreie
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schüttelte die täglichen Dämonen:
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fielen langsam auf die erste Reihe
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schwer und ungeschickt aus seinen Wunden
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große Würmer in die offnen Kronen
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und vermehrten sich im Samt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26 KB)

Details zum Gedicht „Der Stylit“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
30
Anzahl Wörter
172
Entstehungsjahr
1918
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Stylit“ wurde von dem dichter Rainer Maria Rilke verfasst, welcher von 1875 bis 1926 lebte. Das Werk gehört damit zur Moderne. Rilke ist bekannt für seine bildreiche und tiefgründige Sprache.

Auf den ersten Blick scheint das Gedicht eine düstere Atmosphäre zu haben, voller Verzweiflung und Einsamkeit.

Inhaltlich handelt „Der Stylit“ von einer Person, die sich von der Gesellschaft zurückzieht, in den Worten Rilkes „klomm er aus dem Volksgeruch mit klammen Händen einen Säulenschaft empor“. Es scheint, als ob das lyrische Ich sich immer weiter von Menschen entfernt und sein Leben in Alleinsein und Abstinenz führt, vergleichbar mit einem Säulenheiligen (Stylit), der das weltliche Leben ablehnt und sein Dasein der Verehrung Gottes widmet. In ständigem Vergleich mit dem „Lob des Herren“, realisiert die Person ihre eigene Unzulänglichkeit. Das lyrische Ich wählt den Weg der Selbstkasteiung und strebt nach Perfektion, obwohl es sich dessen bewusst ist, dass es diesem Ideal nicht gerecht werden kann.

Das Gedicht besteht aus sechs Strophen mit einer uneinheitlichen Anzahl an Versen und hält keine einheitliche Reimstruktur ein, was man als freie Verse bezeichnen könnte. Rilke verwendet eine komplizierte, symbolgeladene Sprache voller Metaphern und die bildliche Darstellung dient der Verstärkung der Gefühlswelt des lyrischen Ichs.

Insgesamt drückt das Gedicht die Kontroverse zwischen dem Streben nach dem Göttlichen und der Unzulänglichkeit des Menschlichen aus. Es hebt Rilkes Fähigkeit hervor, tiefe und komplexe Gefühle stark zum Ausdruck zu bringen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der Stylit“ des Autors Rainer Maria Rilke. Der Autor Rainer Maria Rilke wurde 1875 in Prag geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1918 zurück. Leipzig ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Bei dem Schriftsteller Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 172 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 30 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Die Gedichte „Abend in Skaane“, „Absaloms Abfall“ und „Adam“ sind weitere Werke des Autors Rainer Maria Rilke. Zum Autor des Gedichtes „Der Stylit“ haben wir auf abi-pur.de weitere 338 Gedichte veröffentlicht.

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