Der Schwan von Charles Baudelaire
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Andromache · deiner gedenk ich! das flüsschen bescheiden |
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Und ärmlich – es spiegelte ehdem in seinem schooss |
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Die mächtige trauer deiner wittwenleiden: |
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Der trügende Simoïs durch deine thränen nun gross |
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Ist plötzlich in mein fruchtbar gedächtnis gedrungen |
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An jenem tag auf dem neuen Carrousel .. |
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Die Stadt wird mir fremd vor lauter veränderungen. |
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Ein menschenherz ach! verändert sich nicht so schnell. |
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Ich sehe nur noch im geiste die vielen baracken |
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Begonnene säulen und fässer am boden umher |
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Vom wasser der pfützen grün überzogene wacken |
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Und durch die fenster ein trödel kreuz und quer. |
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Dort war eine schaubude seltener tiere gewesen · |
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Dort kam mir entgegen in kaltklarer morgenzeit |
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Wo wieder die arbeit erwacht und die rotte der besen |
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Zum stillen himmel verderbliche dünste speit: |
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Ein schwan – der fliehend seinen käfig verlassen · |
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Mit flossigem fusse das trockene pflaster rieb · |
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Das weisse gefieder zog auf den holprigen gassen |
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Und vor einem bach ohne wasser stehen blieb. |
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Er badete zitternd in dem staub seine schwingen |
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Und sprach im gedanken ans blaue heimatgefild: |
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Wann triffst du mich · blitz! wann wirst du mich · wolke · verschlingen! |
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Ich sah den elenden · unheilvoll seltsames bild · |
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Zum himmel oft · wie der mann in Ovidi gedichten · |
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Zum blauen himmel der lächelt mit grausamem spott |
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Auf zuckendem halse den kopf in die höhe richten |
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Als wende er sich in bittrem vorwurf an Gott. |
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Paris wird anders · doch meine betrübnis zu mildern |
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Vermag keine ändrung · gerüst und neuer palast |
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Und alte vorstadt – alles erscheint mir in bildern |
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Und meine erinnrungen wiegen wie bergeslast. |
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Vorm Louvre · wo ein bild mich erschütterte · dachte |
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Ich an meinen grossen schwan der vorüberschlich |
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Wie irr und wie die verbannten – erhabne verlachte |
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Und ewig von sehnsucht zernagte – und dann an dich · |
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Andromache der man den grossen gatten entzogen · |
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Dem stolzen Pyrrhus wurde als beute dein leib · |
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Du über ein leeres grab in verzückung gebogen · |
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Du witwe des Hector ach! und des Helenus weib. |
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Ich denke der negerin zehrung-erkrankt und hager: |
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Sie watet im schmutze und sucht mit fahlem gesicht |
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Der strahlenden Afrika glückliche palmenlager |
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Weit hinter den schranken sich türmender nebelschicht – |
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Und derer die sich um unwiederbringliches kränken |
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Das nie .. nie .. und derer die schöpfen am thränenteich · |
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Am schmerz wie an einer gütigen wölfin sich tränken · |
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Der mageren waisen die welken den blumen gleich. |
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Im walde worin mein geist in verbannung gesessen |
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Ertönt eine alte erinnrung mit markigem schall!... |
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Ich denke an schiffer auf einsamer insel vergessen |
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Und an die gefangnen · besiegten ... und anderen all! |
Details zum Gedicht „Der Schwan“
Charles Baudelaire
14
53
403
nach 1837
Biedermeier,
Junges Deutschland & Vormärz,
Realismus
Gedicht-Analyse
Das vorliegende Gedicht „Der Schwan“ stammt von Charles Baudelaire, einem der bedeutendsten französischen Lyriker des 19. Jahrhunderts. Es lässt sich zeitlich in die Epoche des literarischen Realismus einordnen.
Beim ersten Eindruck fällt auf, dass das Gedicht in 14 Strophen unterteilt ist und sich mit starken emotionalen Bildern beschäftigt. Es thematisiert Verlust, Sehnsucht und Veränderungen, sowohl räumlich als auch emotional.
Inhaltlich schildert das lyrische Ich seine Gedanken und Emotionen, die durch die Beobachtung eines Schwans an einem Ortswechsel ausgelöst werden, womöglich Paris. Es stellt Verbindungen her zur Gestalt der Andromache, der Witwe des trojanischen Helden Hector aus der griechischen Mythologie, sowie zu weiteren Leidenden und Verbannten. Der Schwan, der gemäß der Symbolik oft für Reinheit, Grazie und Traurigkeit steht, scheint die inneren Zustände des lyrischen Ichs zu spiegeln – seine Isolation, sein Unbehagen und seine Sehnsucht.
Formal lässt sich erkennen, dass das Gedicht keinen einheitlichen Vers- oder Reimschema folgt, sondern freie Verse in abwechselnden Strophenlängen verwendet, was eine gewisse formale Freiheit suggeriert. Die Sprache des Gedichts ist stark bildhaft, teils sehr konkret und teils metaphorisch. Wiederholungen, wie „nie .. nie ..“, intensivieren die Ausdruckskraft der Gefühle.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Baudelaire in „Der Schwan“ individuelles Leid und Melancholie ausdrückt, die durch den Wandel der Zeit und den Verlust des Vertrauten hervorgerufen werden. Gleichzeitig stellt er Bezüge zu vielen verschiedenen Individuen und Geschichten her, womit er das persönliche Leid in einen größeren, universelleren Kontext stellt. Durch die bildhafte und emotionale Sprache ermöglicht das Gedicht eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Verlust, Veränderung und Gedenken, wodurch es sowohl ästhetisch anspruchsvoll als auch emotional berührend ist.
Weitere Informationen
Der Autor des Gedichtes „Der Schwan“ ist Charles Baudelaire. 1821 wurde Baudelaire in Paris geboren. In der Zeit von 1837 bis 1867 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Berlin. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus zuordnen. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 403 Wörter. Es baut sich aus 14 Strophen auf und besteht aus 53 Versen. Charles Baudelaire ist auch der Autor für Gedichte wie „Begräbnis“, „Bertas Augen“ und „Besessenheit“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Schwan“ weitere 101 Gedichte vor.
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