Der Schutzengel von Rainer Maria Rilke

Du bist der Vogel, dessen Flügel kamen,
wenn ich erwachte in der Nacht und rief.
Nur mit den Armen rief ich, denn Dein Namen
ist wie ein Abgrund, tausend Nächte tief.
Du bist der Schatten, drin ich still entschlief,
und jeden Traum ersinnt in mir Dein Samen, –
du bist das Bild, ich aber bin der Rahmen,
der Dich ergänzt in glänzendem Relief.
 
Wie nenn ich dich? Sieh, meine Lippen lahmen.
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Du bist der Anfang, der sich groß ergießt,
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ich bin das langsame und bange Amen,
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das Deine Schönheit scheu beschließt.
 
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Du hast mich oft aus dunklem Ruhn gerissen,
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wenn mir das Schlafen wie ein Grab erschien
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und wie Verlorengehen und Entfliehn,
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da hobst Du mich aus Herzensfinsternissen
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und wolltest mich auf allen Türmen hissen
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wie Scharlachfahnen und wie Draperien.
 
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Du: Der von Wundern redet wie vom Wissen
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und von den Menschen wie von Melodien
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und von den Rosen: von Ereignissen,
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die flammend sich in Deinem Blick vollziehn, –
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Du Seliger, wann nennst Du einmal Ihn,
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aus dessen siebentem und letztem Tage
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noch immer Glanz auf Deinem Flügelschlage
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verloren liegt, …
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Befiehlst Du, daß ich frage?
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.9 KB)

Details zum Gedicht „Der Schutzengel“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
27
Anzahl Wörter
183
Entstehungsjahr
1899
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Rainer Maria Rilke, ein österreichisch-deutscher Schriftsteller, der von 1875 bis 1926 lebte. Das Gedicht lässt sich in die Epoche des Symbolismus und des frühen Expressionismus einordnen, die in etwa von der Jahrhundertwende bis zum ersten Weltkrieg angesiedelt sind.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass es sich um ein lyrisches Werk mit emotionaler Tiefe und religiösem Bezug handelt. Der Leser nimmt den ständigen Dialog und die persönliche Beziehung zwischen dem lyrischen Ich und einer höheren Geistfigur wahr, die hier als der Schutzengel dargestellt wird.

Inhaltlich bildet das Gedicht eine Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit seinem Schutzengel. Das lyrische Ich wendet sich dabei direkt an den Engel und beschreibt dessen Wesen und Wirkungen auf sich. Der Engel steht laut dem lyrischen Ich für Halt, Geborgenheit, Inspiration und Schönheit. Es gibt jedoch auch Züge der Unsicherheit und Furcht, insbesondere im dritten und vierten Vers, wo vom „Abgrund“ und der „Herzensfinsternis“ die Rede ist. Generell bleibt der Engel eine rätselhafte und übermächtige Gestalt, deren Namen das lyrische Ich nicht auszusprechen vermag und deren Herkunft aus der göttlichen Schöpfung es immer wieder anspricht.

Die Form des Gedichts ist unregelmäßig, die Strophen sind unterschiedlich lang und umfassen zwischen vier und neun Verse. Damit passt das Gedicht gut in die Epoche des Expressionismus, die für ihr gebrochenes Verhältnis zur traditionellen Vers- und Strophenform bekannt ist.

Sprachlich fällt besonders die starke Präsenz von Metaphern und Symbolen auf, durch die die Beziehung zwischen dem lyrischen Ich und dem Engel verdeutlicht wird. So wird der Engel als „Vogel“, „Abgrund“, „Schatten“ und „Bild“ beschrieben. Der Zwiegesprächsstil und die häufigen Anrufungen („Du bist“, „Wie nenn ich dich“) sorgen für eine hohe Intensität und Emotionalität, die durch den klangvollen und rhythmischen Sprachduktus noch verstärkt wird.

Rilke nutzt auch kontrastierende Bilder wie Dunkelheit und Licht, Tod und Leben, Einsamkeit und Gemeinschaft, um die Dualität und Komplexität der Engelsgestalt auszudrücken. Es ist die Ambivalenz zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen Irdischem und Himmlischem, die der Engelgestalt ihre Faszination und Rätselhaftigkeit verleiht.

Weitere Informationen

Rainer Maria Rilke ist der Autor des Gedichtes „Der Schutzengel“. Im Jahr 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Im Jahr 1899 ist das Gedicht entstanden. Berlin / Leipzig, Stuttgart ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Bei dem Schriftsteller Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 183 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 27 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Weitere Werke des Dichters Rainer Maria Rilke sind „Abend“, „Abend“ und „Abend in Skaane“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Schutzengel“ weitere 338 Gedichte vor.

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