Der Schauende von Rainer Maria Rilke
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Ich sehe den Bäumen die Stürme an, |
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die aus laugewordenen Tagen |
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an meine ängstlichen Fenster schlagen, |
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und höre die Fernen Dinge sagen, |
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die ich nicht ohne Freund ertragen, |
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nicht ohne Schwester lieben kann. |
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Da geht der Sturm, ein Umgestalter, |
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geht durch den Wald und durch die Zeit, |
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und alles ist wie ohne Alter: |
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Die Landschaft, wie ein Vers im Psalter, |
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ist Ernst und Wucht und Ewigkeit. |
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Wie ist das klein, womit wir ringen, |
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was mit uns ringt, wie ist das groß; |
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ließen wir, ähnlicher den Dingen, |
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uns so vom großen Sturm bezwingen, – |
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wir würden weit und namenlos. |
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Was wir besiegen ist das Kleine, |
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und der Erfolg selbst macht uns klein. |
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Das Ewige und Ungemeine |
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will nicht von uns gebogen sein. |
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Das ist der Engel, der den Ringern |
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des alten Testaments erschien; |
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wenn seiner Widersacher Sehnen |
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im Kampfe sich metallen dehnen, |
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fühlt er sie unter seinen Fingern |
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wie Saiten tiefer Melodien. |
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Wen dieser Engel überwand, |
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welcher so oft auf Kampf verzichtet, |
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der geht gerecht und aufgerichtet |
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und groß aus jener harten Hand, |
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die sich, wie formend, an ihn schmiegte. |
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Die Siege laden ihn nicht ein. |
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Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte |
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von immer Größerem zu sein. |
Details zum Gedicht „Der Schauende“
Rainer Maria Rilke
4
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194
1906
Moderne
Gedicht-Analyse
Der Autor des Gedichts ist Rainer Maria Rilke, ein bedeutender Lyriker des frühen 20. Jahrhunderts. Rilke wurde am 4. Dezember 1875 geboren und starb am 29. Dezember 1926. Das Gedicht ist daher in das literarische Zeitalter der Moderne einzuordnen.
Beim ersten Eindruck des Gedichts „Der Schauende“ fallen schnell die Naturbilder auf, die Rilke verwendet, insbesondere die Bäume und der Sturm. Das lyrische Ich blickt auf die Welt um sich herum und reflektiert über seine Verbindung zu ihr.
Inhaltlich geht es in diesem Gedicht darum, dass das lyrische Ich beobachtet, wie die Bäume den Stürmen standhalten, die aus den vergangenen Tagen hervorgehen. Es hört, was die entfernten Dinge sagen, die es ohne Freunde nicht ertragen kann und ohne Geschwister nicht lieben kann. Der Sturm, als Veränderer, geht durch den Wald und durch die Zeit, und alles erscheint zeitlos: Die Landschaft ist ernst, mächtig und ewig. Das lyrische Ich reflektiert darüber, wie klein das ist, mit dem wir Menschen ringen, und wie groß das ist, was mit uns ringt. Wenn wir uns von den großen Stürmen des Lebens bezwingen ließen, wären wir weit und namenlos. Das, was wir besiegen, ist das Kleine und der Erfolg selbst macht uns klein. Das Ewige und Unermessliche will sich uns nicht unterwerfen.
In Bezug auf die Form und die Sprache des Gedichts lässt sich feststellen, dass „Der Schauende“ in vier unterschiedlich lange Strophen unterteilt ist. Jede dieser Strophen hat ihr eigenes Thema und ihre eigene Aussage, aber alle tragen sie zur Gesamtbedeutung des Gedichts bei. Die Sprache ist sehr bildreich und enthält viele Metaphern. Rilke formuliert in seinem Gedicht einen Aufruf an den Menschen, sich der Größe und Unermesslichkeit der Welt und des Lebens zu stellen und sich nicht nur mit dem Kleinen und Alltäglichen zufrieden zu geben. Die Konfrontation mit dem Großen und Ewigen, auch wenn es zunächst Ängste und Herausforderungen mit sich bringt, ermöglicht ein tieferes, bereicherndes und größeres Leben.
Weitere Informationen
Das Gedicht „Der Schauende“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Rainer Maria Rilke. Im Jahr 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1906 entstanden. Berlin / Leipzig, Stuttgart ist der Erscheinungsort des Textes. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 34 Versen mit insgesamt 4 Strophen und umfasst dabei 194 Worte. Der Dichter Rainer Maria Rilke ist auch der Autor für Gedichte wie „Advent“, „Allerseelen“ und „Als ich die Universität bezog“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Schauende“ weitere 338 Gedichte vor.
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