Frau Ellen von Friederike Brun

Nicht sterben zu können, o bitterstes Weh
Von allem Weh auf der Erde!
Nicht sterben zu können, o schaud'rige Höh'
Von Menschenqual und Beschwerde!
Die Nächte so bang,
Die Tage so lang
Und nirgends Tröstung verhanden,
nicht Hoffnung, noch Ruh!
Das Grab schießt sich zu —
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Frau Ellen, sie hat es erfahren!
 
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Frau Ellen war schön wie der blühende Mohn,
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Doch ohnee Duft war die Blüthe;
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Die lächelnde Lipp' umschwebte der Hohn,
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Ihr Aug', es strahlte nicht Güte.
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Wie die Palme schlank,
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Mit dem Herrschergang
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Und mit Schlehschwarz glänzenden Haaren;
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Doch es scheucht' ihr Blick
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Die Sehnsucht zurück.
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Frau Ellen, sie hat es erfahren!
 
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Frau Ellen, sie waltete frei und kühn,
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Die Wittfrau im prächtigen Hause.
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Manch wackeren Freier läßt stolz sie zieh'n,
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Denn nur sie will herrschen im Hause;
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Doch kam nun die Zeit,
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Wo's manche gereut,
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Die kindlos, wie sie, war geblieben.
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So öde der Saal,
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So schaurig das Thal!
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Frau Ellen, ach, könntest du lieben!
 
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Frau Ellen, sie baut eine Kirche so schön,
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Doch nur sich selber zu Ehren;
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Hoch läßt sie den künstlichen Bau ersteh'n;
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Drob läßt sie den Bauer beschweren.
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Es waltet darin
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Kein heiliger Sinn,
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Drum hat sie den Sohn schon empfangen!
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Schon steht der Altar
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Mit Kerzen so klar —
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Frau Ellen, sie wird es erfahren!
 
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Und zu des hochstrahlenden Altars Licht
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Naht nun Frau Ellen mit Prangen;
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Nicht Demuth umschleiert ihr Angesicht,
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Hoch glühen ihr Augen und Wangen.
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Sie knieet dahin
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Mit himmelab strebt ihr Gedanke:
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?Laß, Gott in den Höh'n,
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Mein Leben besteh'n,
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So lange mein Kirchlein wird stehen!"
 
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?Frau Ellen, Frau Ellen! Was habt ihr erfleht!
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— Ruft der fromme Priester voll Grauen —
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O, Vater verwirf ihr frevelnd Gebet,
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Und laß dein Antlitz sie schauen!?
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Doch sie geht dahin
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Mit muthigem Sinn,
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Fast hofft sie ein Leben ohn' Ende;
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Voll weltlicher Lust
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Die schwellende Brust —
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Frau Ellen, du wirst es erfahren!
 
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Frau Ellen, sie kehrt in den hohen Saal
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Zum schön bereiteten Feste;
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Entgegen wimmeln ihr allzumal
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Die längst geladenen Gäste.
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Bei Speis' udn bei Trank,
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Bei Sang und bei Klang,
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Thut bald der Abend sich neigen —
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Frau Ellen im Reih'n
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Bei der Kerze Schein
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Sie thut noch gar stattlich sich zeigen.
 
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Und also vergehet nun Jahr auf Jahr,
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Die Tage sie folgen den Tagen.
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Längst flohen sie Schönheit und Anmuth zwar,
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Doch nicht will Frau Ellen verzagen;
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Denn dem Reichthum baar
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Folgt der Schwelger Schaar,
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Noch leben auch traute Verwandte,
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Und in voller Kraft
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Ist die Dienerschaft
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Um die Herrin glänzend geschaaret.
 
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Es steigen die Jahre, schon sinket herab,
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Was mit ihr einst fröhlich geblühet;
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Es öffnet sich friedlich das stille Grab
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Für die, so sich um sie gemühet;
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Ach, der Schwestern Schaar,
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Der Gebrüder Paar,
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Es schwinden Vettern und Tanten.
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Sie steht nun allein,
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Im nächtlichen Schein,
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Denn dahin sind alle Verwandten.
 
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Noch lebt der Pfarrer so gut und fromm,
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Der die Kirch' einst hatte geweihet;
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Er liegt zu sterben, sanft ruft er: ?O komm,
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Wohl hast du dein Irrsal bereuet!"
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Ihr Herz war verschrumpft,
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Die Seele verdumpft
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Und taub für die Stimme der Liebe.
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In des Irrsals Nacht,
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Des Unglaubens Schacht,
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War Frau Ellen tief eingefahren!
 
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?Fahr wohl denn, Du arme verirrte Frau!
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Mein Auge, bald thut es sich schießen.
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Erweich' sie, o himmlischer Gnadenthau!
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O möchten die Thränen ihr fließen!"
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Sanft sank er dahin,
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Mit kindlichem Sinn;
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Frau Ellen, sie sah ihn nicht sterben.
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Auf Leben bedacht,
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Läßt sie unbeacht,
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Daß Leben sie führt zum Verderben.
 
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Allein sitzt Frau Ellen im hohen Saal,
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Das Bild der entflossenen Tage;
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Hochalt, aber kräftig, voll tiefer Qual,
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Zu stolz noch zur mindesten Klage.
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Der Miethlinge Schaar,
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Noch gehorcht sie zwar,
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Doch nicht mit treuem Gemüthe.
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Frau Ellen sitzt kalt
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Wie Marmorgestalt. —
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Ach, Frau Ellen hat es erfahren!
 
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Nun schwinden die Sinne, das Auge umflirrt
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Ein Gewebe düsterer Schleier;
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Die Oeffnung des Ohrs umsaust und umschwirrrt
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Eintönig ein traurig Geleier;
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Das Gefühl erdumpft,
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Der Geschmack erstumpft,
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Kaum tragen verknöcherte Kniee.
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Von der Welt gewandt,
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An's Leben gebannt — —
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Frau Ellen, du hast es erfahren!
 
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Sie verschmäht die Speis', sie verschmähet den Trank,
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Sie schwindet dahin wie ein Schatten,
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Doch wird sie nicht schwächer, sie wird nicht krank,
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Nichts kann ihr das Leben ermatten!
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Man strömet herzu,
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Läßt nicht Rast noch Ruh,
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Das furchtbare Wunder zu schauen:
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Sie blicket so starr
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Auf die fremde Schaar,
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Und Alles erblickt sie mit Grauen.
 
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Frau Ellen läßt zimmern den Sarg so lang
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Aus des Waldes ältester Eiche:
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?Drein sollt ihr mich legen, nicht todt noch krank,
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Daß darin ich einsam verbleiche! —
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Hinter'm Hochaltar
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Mich setzt auf die Bahr',
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Laßt den Pfaffen die Seelmessen singen! —
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Jede Christnacht kommt
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Er zu sehen, wie's frommt!" —
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Ach, Frau Ellen, du wirst es erfahren!
 
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Und die Christnacht kam, und in tiefem Schnee
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Ruht das Land im Leichengewande —
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Frau Ellen, sie richtet sich in die Höh':
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?Ist die Kirche noch immer im Stande?"
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Sie empfängt den Wein,
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Sie empfängt das Brod,
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Sie empfängt die Labung der letzten Noth.
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Ach, sie stürbe gern!
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Todesschlaf ist fern.
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O, du hast das Leben erfahren!
 
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Und die Christnacht kommt, und die Christnacht geht,
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Und Alles sich freut in der Runde:
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Es wird den Kindlein der Lichtbaum erhöht
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Zu der festlich heiligen Stunde.
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Der Pfarrer so bang
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Geht die Kirch' entlang,
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Er besteigt des Hochaltars Stufen,
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Und hinter'm Altar
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Hört er furchtbar klar
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Schon Frau Ellens Stimme sich rufen.
 
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Ach, sie hebt den schweren Deckel empor,
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Sie erhebt sich zwischen sechs Brettern:
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?Kein Mitleid für mich in der Heiligen Chor,
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Denn mich selbst, ach, wollt' ich vergöttern!
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Trefft Blitze den Bau!
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Laßt zur Schreckensschau
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In Asche mich Aermste verlodern!"
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Drauf die Aermste schweigt,
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Und zurück sich neigt,
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Sie kann nicht im Sarge vermodern!
 
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Denn die Kirche fest wie ein Felsen steht,
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Auch sie kann nicht wanken, noch weichen;
182 
Kein Steinchen davon auseinander geht,
183 
Und Frau Ellen kann nicht erbleichen!
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O bitterstes Weh,
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O schaud'rige Höh',
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Nicht sterben, nicht sterben zu können!
187 
Viel mildere Qual,
188 
In Fegfeuers Thal
189 
Sich rein von der Sünde zu brennen!

Details zum Gedicht „Frau Ellen“

Anzahl Strophen
19
Anzahl Verse
189
Anzahl Wörter
998
Entstehungsjahr
1765 - 1835
Epoche
Aufklärung,
Empfindsamkeit,
Sturm & Drang

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht stammt von der Dichterin Friederike Brun, die in der Epoche der Romantik lebte und arbeitete. Das ist eine Zeit, die von starken Gefühlsausbrüchen, der Betonung des Subjektiven und der Bevorzugung des Mystischen und Unbekannten gekennzeichnet ist.

Auf den ersten Blick wirkt dieses Gedicht sehr tragisch und düster. Es handelt von einer Frau namens Ellen, die sich für ihre Sünde, die Eitelkeit, rächen muss. Das lyrische Ich erzählt ihre Geschichte und kommentiert ihre Handlungen und Entscheidungen.

Inhaltlich erzählt das Gedicht von Frau Ellen, einer stolzen und schönen Frau, die sich entscheidet, alleine zu leben und Macht und Kontrolle über ihr eigenes Leben und ihr Haus auszuüben. Sie baut eine Kirche zu ihrem eigenen Ruhm und betet um ewiges Leben. Ihr Wunsch wird erfüllt, aber sie entdeckt schnell, dass ewiges Leben nicht das ist, was sie erwartet hat. Sie lebt weiter, während alle um sie herum sterben und sie kann nicht sterben, wie sie es sich wünscht.

Form und Sprache des Gedichts sind recht konservativ. Es besteht aus 19 Strophen mit jeweils zehn Versen, die im Reimschema ABAB geordnet sind. Dies verleiht dem Gedicht einen rhythmischen, gleichmäßigen Fluss, der die Geschichte gut vorantreibt. Die Sprache ist recht formal und erinnert an die traditionelle Dichtung der Romantik. Sie verwendet eine Reihe von Bildern und Metaphern, um die Emotionalität und Dramatik der Geschichte zu verstärken.

Insgesamt kann dieses Gedicht als eine Morallektion interpretiert werden. Frau Ellen wird für ihre Eitelkeit und ihren Wunsch nach ewigem Leben bestraft. Durch ihre Gefangenschaft im ewigen Leben lernt sie, dass das Leben ohne den Tod bedeutungslos ist. Ihre Geschichte ist eine Warnung vor der Gefahr, dass man sich zu sehr auf sich selbst und auf materielle Dinge konzentriert, und ein Aufruf, sich mehr auf das Geistige und das Zusammenleben mit anderen zu konzentrieren.

Weitere Informationen

Die Autorin des Gedichtes „Frau Ellen“ ist Friederike Brun. Brun wurde im Jahr 1765 in Gräfentonna geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1781 und 1835. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm & Drang, Klassik, Romantik, Biedermeier oder Junges Deutschland & Vormärz kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin vorgenommen werden. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das Gedicht besteht aus 189 Versen mit insgesamt 19 Strophen und umfasst dabei 998 Worte. Weitere bekannte Gedichte der Autorin Friederike Brun sind „Bey Henriettens Grabe“, „Bey Münters Grabe“ und „Chamounix beym Sonnenaufgange“. Zur Autorin des Gedichtes „Frau Ellen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 58 Gedichte veröffentlicht.

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