Der Ruf aus der Tiefe von Paul Haller

Es zog ein Knabe durchs Schweizerland,
Saß nieder im Dorf, wo er Arbeit fand,
Ein starker, verschlossener Junge,
Trug nie sein Herz auf der Zunge.
 
Da riefen heimlich die Mädchen ihm zu:
Was für ein Schöner und Stolzer bist du!
Die Mütter machten ihm Augen:
Hier kann dein Stolzkopf nicht taugen!
 
Des Ammanns Tochter am Kirchweihtanz
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Wollt nicht mehr tragen den Jungfernkranz.
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Sein war ihr Herz und ihr Wille;
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Sie gab ihm den Kranz in der Stille.
 
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Doch als schon der Pfarrer im Chorrock stand,
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War der Knabe davon und weit übers Land.
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Wie mußte das Mädchen sich grämen,
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Und ihr Vater, der Ammann sich schämen.
 
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Bald legte sie sich und säugte ein Kind,
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Ein Mädchen so frisch wie der Morgenwind.
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Sie drückt’ es mit bitterem Weinen:
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Dir wird kein Glücksstern je scheinen!
 
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Auf sprang sie zur Nacht und barg es im Kleid,
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Trug’s heimlich geborgen und trug es so weit,
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Daß niemand sein Schreien mehr hörte. –
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Dort warf’s in den Fluß die Betörte,
 
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Wollt’ selber nach – da riß sie ans Land
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Vom Ufergebüsch eine starke Hand:
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Hier bin ich! Kannst du vergeben?
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Von heut an gehört dir mein Leben!
 
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Gebrochen die Lieb! Gebrochen die Treu!
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Verdorben das Kind! Zu spät deine Reu!
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Mein Kind, mein Kind in den Wellen!
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Das schüttelt den starken Gesellen.
 
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Hart packt er das Weib, schwingt hoch sie hinauf
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Und springt mit ihr in den gurgelnden Lauf. –
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Der glaubte wohl, daß ihnen riefe
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Das tote Kind in der Tiefe.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.7 KB)

Details zum Gedicht „Der Ruf aus der Tiefe“

Autor
Paul Haller
Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
246
Entstehungsjahr
nach 1898
Epoche
Naturalismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Ruf aus der Tiefe“ wurde von dem Schweizer Dichter Paul Haller geschrieben, der von 1882 bis 1920 gelebt hat. Es entstand somit in einer Zeit, die von spätromantischer und expressionistischer Kunst geprägt war.

Beim ersten Eindruck kann man nicht direkt erkennen, dass das Gedicht eine düstere Erzählung ist. Der Anfang des Gedichts erinnert eher an eine romantische Geschichte eines wandernden Jünglings, der auf seiner Reise in einem Dorf Halt macht und dort Arbeit findet. Die anfangs aufkommenden Gefühle von Romantik und Anerkennung verwandeln sich jedoch schnell in eine tragische Situation.

Das Gedicht erzählt die Geschichte eines unbekannten Jünglings, der durch das Schweizerland reist und in einem Dorf ankommt. Er ist stark und still und zieht die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner auf sich, insbesondere der jungen Mädchen und der Mütter. Eine von ihnen, die Tochter des Ammanns, gibt ihm den Jungfernkranz, was eine Hochzeitszusage bedeutet. Der Junge jedoch verschwindet, bevor die Hochzeit stattfinden kann, und lässt die verlorene junge Frau mit einem unehelichen Kind zurück. Aus Verzweiflung und Scham ertränkt die junge Frau das Kind und will sich ebenfalls das Leben nehmen, als der reuige junge Mann zurückkehrt. Er nimmt sie mit in den Tod, indem er beide in den Fluss wirft, wo er glaubt, dass das ertränkte Kind nach ihnen ruft.

Inhaltlich wird hier eine tragische Geschichte erzählt, in der das lyrische Ich das tragische Schicksal einer jungen Frau und ihren untreuen Verlobten schildert. Es scheint, dass das lyrische Ich das Geschehen aus der Distanz beobachtet und kommentiert, jedoch keinerlei Einflussmöglichkeiten hat.

Das Gedicht ist in Neunzeilern gehalten und besitzt einen festen Rhythmus, der aus abwechselnd fünf- und vierhebigen Jamben besteht. Das Endreimschema ist unabänderlich „abab“. Die Sprache ist einfach und verständlich, ohne komplizierte Metaphern oder Allegorien. Es sind eher die Handlung und die emotionale Tiefe, die dieses Gedicht so stark machen.

Das Gedicht lebt von der Spannung und dem starken Gefühl, das es erzeugt. Es zeigt auf tragische Weise die Folgen von Untreue und Verantwortungslosigkeit. Es ist ein starkes Beispiel für die Fähigkeiten des Autors, tiefgründige und schwere Themen in einen poetischen Kontext zu setzen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der Ruf aus der Tiefe“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Paul Haller. Der Autor Paul Haller wurde 1882 in Rein bei Brugg geboren. Im Zeitraum zwischen 1898 und 1920 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Aarau. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Naturalismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Haller handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 246 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 36 Versen mit insgesamt 9 Strophen. Der Dichter Paul Haller ist auch der Autor für Gedichte wie „Abseits (Haller)“, „Adie Wält“ und „An die Mutter“. Zum Autor des Gedichtes „Der Ruf aus der Tiefe“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 65 Gedichte vor.

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