Die Schranken der Endlichkeit von Therese von Artner

In stiller, abgeschloss'ner Zelle,
Der Weisheit nur sich weihend, denkt
Oft bis zur zweiten Morgenhelle
Der weise Sophron tiefversenkt.
Um ihn sind aufgeschlag'ne Bände,
Und Zirkel, Zahlen, Winkelmaß;
Mit Rollen tapezirt die Wände,
Mit Globen, Karten und Kompaß.
 
In Fluth und Feuer, Kolben, Tiegel
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Spürt er der Dinge Stoffen nach:
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Da schmolz ihm manch geheimes Siegel,
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Das nie noch eine Hand erbrach.
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Und immer tiefer, höher waget
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Sich seines Forschungsgeistes Kraft;
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Mit jedem neuen Morgen taget
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Ihm neues Licht der Wissenschaft.
 
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Und immer mehr wächst sein Vertrauen
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Zu seines Genius Gewalt;
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Durch jeden Vorhang will er schauen,
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Der vor dem Heiligthume wallt.
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Die Schranken alle will er brechen,
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Womit uns Endlichkeit begränzt;
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Will schöpfen aus des Urlichts Bächen,
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Wo hüllenlos die Wahrheit glänzt.
 
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Als Nachts einst seine Augen spähten
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Durch's Fernrohr an dem Himmelsdom,
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Zu suchen schweifende Kometen
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Und Nebelfleck' im Sternenstrom,
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Trat überdrüssig er zurücke:
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?Fort mit dem armen Mittelding!
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Seh'n will ich dies mit eignem Blicke,
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Selbst kreisen in der Welten Ring".
 
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Und eilig fertigt er sich Schwingen
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Die keine Sonnengluth erweicht,
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Ein weis'rer Ikarus, zu dringen
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In's Reich des Äthers, kühn und leicht.
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Fest schnallt er sie an Brust und Hüfte,
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Und schlägt sie freudig zu und auf;
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Schon hebt er sich, fliegt in die Lüfte,
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Und Wolk' und Sturm besiegt sein Lauf.
 
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Die dunkle Region der Blitze
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Liegt hinter ihm; nur klares Blau
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Vor ihm: er wähnt dem Göttersitze
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Schon nah' sich, und der Weltenschau.
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Doch fruchtlos athmen seine Lungen,
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Ihm fehlet Luft im luft'gen Raum,
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Die Haut sieht er von Blut durchdrungen,
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Vom Munde quillt ihm blut'ger Schaum.
 
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Er athmet tief, er ächzt nach Hülfe,
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Er weinet, - Blut entquillt dem Blick.
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Da steht vor ihm ein ries'ger Sylphe,
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Und ruft ihn furchtbar an: ?Zurück!
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Vermess'ner Staub, zurück in Eile!
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Verwundet bist du überall
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Durch unsichtbarer Sylphen Pfeile
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Hinunter in dein Erdenthal!
 
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?Die irdisch dichte Atmosphäre
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Ist dein bezeichnet Wohngebiet:
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Daß eigner Schmerz dich künftig lehre,
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Wo euch ein Gott die Grenze zieht!"+
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So ruft er aus, und stürzt ihn nieder,
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Und, wie er hart zu Boden fiel,
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Den Sturz noch mildert das Gefieder,
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Sonst säh' er sich am Lebensziel.
 
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Und als er wieder sich gesammelt,
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?Verzeih', o Herr, den Unverstand!
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So der Gefall'ne betend stammelt
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Die Erde nur ist unser Land;
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Nur diese mögen wir ergründen.
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Genug wohl mag in ihrem Raum
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Des Unerforschten noch sich finden;
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Wer höher strebt, hegt eitlen Traum!"
 
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Nun strebt er in des Abgrunds Tiefen,
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Und höhlet sich den tiefsten Schacht,
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Und sprenget die granit'nen Riffen
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Des Erdgebeins mit Pulvermacht.
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Da stürzen sich der Klüfte Wasser
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In seine Gruben mit Gebraus;
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Der Gnomenfürst, der Menschenhasser,
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Treibt ihn mit gift'gen Schwaden aus.
 
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Hier abermals zurückgescheuchet,
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Kommt er demüthiger an's Licht:
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?Bleibt Tief' und Höh' auch unerreichet,
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Die Erdenfläche bleib' es nicht!
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Ob Welttheil' noch im Meere schwimmen,
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Dies sei von Andern kund gethan;
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Ich will allein den Pol erklimmen,
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Mich zieht nur das Geheime an.
 
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?Dann zeig' ich der Systeme Lücken,
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Und wie sich uns're Asche dreht,
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Ob durchgebohrt der Erde Rücken,
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Ob er ein Felsen von Magnet?"
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Er sprach's, und eilet zu den Polen;
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Da steht ein ew'ger Eisesdamm
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Zur Wehre vor, und ruft: ?Verhohlen
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Sei dies auch immer Eurem Stamm!"
 
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Zum dritten Mal zurückgewiesen,
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Seufzt Sophron tief: ?Auch hier verbannt!
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Nur an mich selbst bin ich gewiesen:
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Nun hab' ich mein Gebiet erkannt".
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Die neue Wißbegier zu stillen,
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Greift er zum Arztesmesser gleich,
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Das Wie des Lebens zu enthüllen
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Befraget er das Todtenreich.
 
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Wie mannigfaltig er's beschwöret,
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Stumm bleibet, stumm das Leichengrau'n;
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Er kann nur, wenn es schon zerstöret,
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Das wunderzart' Gewebe schau'n.
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Mag Frosch und Hund er lebend spalten,
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Nach der Gequälten Kreislauf späh'n,
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Der Nervengeist läßt sich nicht halten,
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Nicht in des Denkens Kammer seh'n.
 
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Ja, mag das Wunder er entdecken,
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Von fremdem Lebensstrom berührt,
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Im Schlaf die Seele hell zu wecken,
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Was zu der Selbstbeschauung führt,
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Heißt er sie in's Geheimniß dringen,
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Wie sei dem Stoffe zugesellt,
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So sieht er ob dem freveln Ringen,
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Daß wilder Wahnsinn sie befällt.
 
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Da, von Verzweiflung aufgewiegelt,
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Stürzt Sophron nieder: ?Welche Last
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Ist die Vernunft, wenn zugeriegelt
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Du, Schöpfer! ihr die Schöpfung hast?
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Stößt rings sie an, wo wir sie brauchen,
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Warum, Grausamer, gabst du sie?"
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Da fühlt er Düfte sich umhauchen;
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Es säuselt Sphärenmelodie:
 
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?Zu mir, du kühner Irrer, flüchte!
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Nach mir nur blicke in die Höh',
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Daß in dem Meer von meinem Lichte
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Dein flackernd Lämplein untergeh'!
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Gebrauch' es treu! Doch fühlst du Schranken,
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So ahne die Unendlichkeit,
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Und flügle drüber die Gedanken,
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Anbetend meine Herrlichkeit.
 
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?Dies sind der Cherubime Wonnen,
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Die auf der Stufen letzter steh'n,
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Und, überstrahlend selbst die Sonnen,
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Vor meinem Glanze doch vergeh'n.
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Die gleiche Seligkeit zu trinken,
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Winkt dir der Gottheit Ocean,
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In welchen alle Schranken sinken,
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Und Wohllaut tönt der Schöpfung Plan.
 
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?Hast du geschwelgt im Engelglücke,
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Dann Eines nur dir nöthig thut:
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Von mir dann wend' in dich die Blicke,
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Und forsche nach, was recht und gut!
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Da siehst du hüllenlose Wahrheit,
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Die, ewig Eine, unverrückt,
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In nie getrübter Himmelsklarheit
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Das Kindlein wie der Greis erblickt".
 
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Der Duft verweht, die Stimme schweiget,
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Und Sophron, also hochbelehrt,
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Von frommer Demuth mild gebeuget,
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Erhebt sich selig und verklärt.
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Nicht mehr durch engen Wissens Streben
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Dünkt er sich höhern Geistern gleich,
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Nur Wille soll die Palm' ihm geben
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Und macht sein Herz zum Himmelreich.

Details zum Gedicht „Die Schranken der Endlichkeit“

Anzahl Strophen
20
Anzahl Verse
160
Anzahl Wörter
881
Entstehungsjahr
1772 - 1829
Epoche
Aufklärung,
Empfindsamkeit,
Sturm & Drang

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Schranken der Endlichkeit“ wurde von Therese von Artner verfasst. Sie lebte von 1772 bis 1829 und war eine österreichische Schriftstellerin der Ära der Aufklärung. Das Gedicht lässt sich daher in die Epoche der Weimarer Klassik und der Romantik einordnen, in welcher sich die Autoren häufig mit den Grenzen der menschlichen Erkenntnis und den Möglichkeiten und Gefahren des wissenschaftlichen Fortschritts auseinandersetzten.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht sehr episch und dramatisch. Es schildert die intellektuelle Reise und Suche eines Wissenschaftlers namens Sophron, der auf ständiger Suche nach Wissen und Erkenntnis ist.

Der Inhalt des Gedichts dreht sich um die Versuche des „weisen Sophron“, die Grenzen des menschlichen Wissens und der menschlichen Fähigkeiten zu überwinden. Er wagt sich in verschiedene Bereiche der Wissenschaft und Erkenntnis vor, ihm bleiben jedoch immer wieder Grenzen gesetzt. Sowohl beim Versuch, in den Himmel zu fliegen, als auch beim Erkunden der Tiefen der Erde und beim Erforschen des menschlichen Körpers stößt Sophron auf Hindernisse. Schließlich wird er von einer göttlichen Stimme belehrt, dass wahres Wissen und Erleuchtung nicht durch wissenschaftliche Errungenschaften, sondern durch Demut, Glauben und Verständnis für das Gute zu erlangen sind.

Formal ist das Gedicht in 20 gleich lange Strophen unterteilt, jede bestehend aus acht Versen. Diese strenge Form spiegelt vielleicht den methodischen, disziplinierten Ansatz wider, den Sophron in seiner Suche nach Wissen an den Tag legt. Die Sprache des Gedichts ist reich an allegorischen Bildern und Metaphern, etwa wenn Therese von Artner die Erkenntnissuche als eine Reise in den Himmel, tief in die Erde und in den menschlichen Körper darstellt.

Insgesamt stellt „Die Schranken der Endlichkeit“ eine kritische Reflektion über den menschlichen Drang nach unendlichem Wissen und übersteigertem Fortschrittsdrang dar. Es warnt vor der Hybris des Menschen und verdeutlicht die Notwendigkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis anzuerkennen. Dennoch feiert es auch den menschlichen Forscherdrang und den Wunsch, Unbekanntes zu erkunden.

Weitere Informationen

Die Autorin des Gedichtes „Die Schranken der Endlichkeit“ ist Therese von Artner. Im Jahr 1772 wurde Artner in Šintava/Schintau, Oberungarn/Slowakei geboren. In der Zeit von 1788 bis 1829 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zu den Epochen Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm & Drang, Klassik, Romantik, Biedermeier oder Junges Deutschland & Vormärz zu. Die Angaben zur Epoche prüfe bitte vor Verwendung auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich die Literaturepochen zeitlich teilweise überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung fehleranfällig. Das vorliegende Gedicht umfasst 881 Wörter. Es baut sich aus 20 Strophen auf und besteht aus 160 Versen. Das Gedicht „Der Wassermann“ ist ein weiteres Werk der Autorin Therese von Artner. Zur Autorin des Gedichtes „Die Schranken der Endlichkeit“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

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