Der Reisekoffer von Frank Wedekind

Bei Tafel saßen in bunter Reih’,
Damen und Herren; auch saß dabei
Ein junger Mann von blassem Gesicht,
In Haltung und Ausdruck ernst und schlicht,
Durchaus bescheiden, zwar etwas gefräßig,
Aber schweigsam verhältnismäßig.
 
Und wie ein Bach in der Sonne Blinken
Glitt das Gespräch zwischen Scherzen und Trinken.
Man sprach über dieses, man sprach über jenes,
10 
Man sprach über Nützliches, über Schönes,
11 
Und kam über Unfälle und Verbrechen
12 
Schließlich auf Reisekoffer zu sprechen.
 
13 
Da waren nun, wie das so geht hienieden,
14 
Urteil und Ansichten sehr verschieden;
15 
Die Damen lobten die großen, schweren,
16 
Bequem zu packen und rasch zu leeren,
17 
Ohne daß dabei die Toilette
18 
Jemals Schaden genommen hätte.
 
19 
Den Herren hingegen wollte es scheinen,
20 
Angenehmer wären die kleinen,
21 
Die leichten, zusammengeklappten Dinger;
22 
Man könne sie heben mit einem Finger –
23 
Unser Jüngling in guter Ruh’
24 
Kaut seinen Bissen und schweigt dazu.
 
25 
Und wie im Schilfe der schaukelnde Nachen
26 
Glitt das Gespräch zwischen Scherzen und Lachen
27 
Von Reisekoffern auf ferne Gefilde
28 
Im schönen Italien, auf Kunstgebilde
29 
Und dann auf das Glück, auf das Glücklicherscheinen,
30 
Sowie auf die Liebe im allgemeinen.
 
31 
Unser Jüngling kaut wacker fort,
32 
Hört von dem allen kein Sterbenswort;
33 
Seine Gedanken, begreiflicherweise
34 
Dämmern so weiter im alten Gleise.
35 
Und wie er sich abmüht mit düstrer Stirn,
36 
Löst sich ein Etwas in seinem Hirn,
37 
Und klettert herab, und erreicht seine Zung’,
38 
Und wird nun allmälig zur Äußerung.
39 
Und er tut den Mund auf, er winkt mit der Hand –
40 
Die Damen im Kreise lauschen gespannt,
41 
Die Herren verstummen von Reminiscenzen
42 
Aus schwülen Garderoben mit welkenden Kränzen;
43 
Alles starrt in verhaltenem Grimme,
44 
Und er flötet mit süß melodischer Stimme,
45 
Und dabei leuchtet sein Antlitz hell:
46 
„Ich habe einen von Seehundsfell.“
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.3 KB)

Details zum Gedicht „Der Reisekoffer“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
46
Anzahl Wörter
277
Entstehungsjahr
1905
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Der Verfasser des hier vorliegenden Gedichts „Der Reisekoffer“ ist Frank Wedekind, ein deutscher Schriftsteller und Schauspieler, der von 1864 bis 1918 lebte. Er war besonders bekannt für seine gesellschaftskritischen und provokanten Werke, was auch in „Der Reisekoffer“ durchschimmert. Das Gedicht kann innerhalb des literarischen Kontextes der Jahrhundertwende des 19. zur 20. Jahrhunderts eingeordnet werden.

Auf den ersten Blick scheint „Der Reisekoffer“ ein eher humorvolles Gedicht zu sein, welches von einem gemeinsamen Essen einer Gesellschaft und einer anschließenden Diskussion um einen Reisekoffer handelt. Die Atmosphäre scheint locker und unbeschwert, Anekdoten werden ausgetauscht und viel gelacht.

Inhaltlich handelt das Gedicht von einer Runde von Damen und Herren, die bei einem Abendessen sitzen. Mittendrin sitzt ein junger Mann, der weniger spricht und eher beobachtend und nachdenklich wirkt. Es entsteht eine Diskussion rund um das Thema Reisekoffer, wobei verschiedene Meinungen und Ansichten vertreten werden. Während die Damen große, robuste Koffer bevorzugen, sind die Herren eher Fans von kleinen, leichteren Koffern. Der junge Mann beteiligt sich nicht an der Diskussion. Erst als das Gespräch auf andere Themen übergeht, meldet er sich und offenbart, dass er einen Koffer aus Seehundsfell besitzt.

Dies könnte als Aussage des lyrischen Ichs interpretiert werden, dass es sich nicht an rein oberflächlichen Diskussionen beteiligen möchte und lieber seine eigene, unabhängige Meinung vertritt.

Formal besteht das Gedicht aus sechs Strophen mit verschiedenen Längen und Versen. Die Sprache ist einfach und leicht verständlich gehalten, doch vereinzelt werden metaphorische und bildliche Formulierungen eingesetzt, die den Lesefluss angenehm gestalten und die Vorstellungskraft anregen. Das abschließende Motiv des Seehundsfellkoffers sorgt für eine humorvolle und überraschende Twistentwicklung, die dem Gedicht seinen besonderen Charakter gibt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Der Reisekoffer“ von Frank Wedekind ein humorvolles Gedicht ist, das die Gesellschaftskritik und den Individualismus des Autors widerspiegelt. Mit einfacher Sprache und Form gibt er ein Bild von oberflächlichen Gesellschaftsdiskussionen und betont dabei die Wichtigkeit individueller Meinungsäußerung. Trotz der leichten Tonalität des Gedichts kann so eine tieferliegende Botschaft erkannt werden.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der Reisekoffer“ des Autors Frank Wedekind. Im Jahr 1864 wurde Wedekind in Hannover geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1905. In München ist der Text erschienen. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei Wedekind handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 277 Wörter. Es baut sich aus 6 Strophen auf und besteht aus 46 Versen. Die Gedichte „Altes Lied“, „Am Scheidewege“ und „An Berta Maria, Typus Gräfin Potocka“ sind weitere Werke des Autors Frank Wedekind. Zum Autor des Gedichtes „Der Reisekoffer“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 114 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Frank Wedekind

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Frank Wedekind und seinem Gedicht „Der Reisekoffer“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Frank Wedekind (Infos zum Autor)

Zum Autor Frank Wedekind sind auf abi-pur.de 114 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.