Der Reim von Karl Kraus

Der Reim ist nur der Sprache Gunst,
nicht nebenher noch eine Kunst,
 
Geboren wird er, wo sein Platz,
aus einem Satz mit einem Satz.
 
Er ist kein eigenwillig Ding,
das in der Form spazieren ging.
 
Er ist ein Inhalt, ist kein Kleid,
das heute eng und morgen weit.
 
Er ist nicht Ornament der Leere,
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des toten Wortes letzte Ehre.
 
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Nicht Würze ist er, sondern Nahrung,
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er ist nicht Reiz, er ist die Paarung.
 
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Er ist das Ufer, wo sie landen,
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sind zwei Gedanken einverstanden.
 
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Er ist so seicht und ist so tief
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wie jede Sehnsucht, die ihn rief.
 
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Er ist so einfach oder schal
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wie der Empfindung Material.
 
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Er ist so neu und ist so alt
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wie des Gedichtes Vollgestalt.
 
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Orphischen Liedes Reim, ich wette,
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er steht auch in der Operette.
 
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Wenn Worte ihren Wert behalten,
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kann nie ein alter Reim veralten.
 
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Fühlt sich am Vers ein Puls, ein Herz,
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so fühlt es auch den Reim auf Schmerz.
 
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Aus allgemeinrer Sachlichkeit
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glückt neu der Reim von Leid auf Zeit.
 
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Weist mich das Wort in weitere Fernen —
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o staunend Wiedersehn mit Sternen!
 
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Der erdensichern Schmach Verbreitung
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bedingt dafür die Tageszeitung
 
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und leicht trifft einem irdnen Tropf
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der Reim den Nagel auf den Kopf.
 
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Dem Wortbekenner ist das Wort
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ein Wunder und ein Gnadenort.
 
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Der Reim, oft nur der Verse Leim,
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ist der Gedanken Honigseim.
 
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Hier bietet die Natur den Schatz,
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dort Technik süßeren Ersatz.
 
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Ein Wort, das nie am Ursprung lügt,
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zugleich auch den Geschmack betrügt.
 
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Dort ist’s ein eingemischter Klang,
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hier eingeboren in den Drang.
 
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Sei es der Unbedeutung Schall:
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ein Schöpfer ruft es aus dem All.
 
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Dort deckt der Reim die innre Lücke
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und dient als eine Versfußkrücke.
 
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Hier nimmt er teil am ganzen Muß,
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die Fessel eines Genius,
 
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Gebundnes tiefer noch zu binden.
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Was sich nicht suchen läßt, nur finden,
 
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was in des Wortglücks Augenblick,
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nicht aus Geschick, nur durch Geschick
 
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da ist und was von selbst gelingt,
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aus Mutterschaft der Sprache springt:
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das ist der Reim. Nicht, was euch singt!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.9 KB)

Details zum Gedicht „Der Reim“

Autor
Karl Kraus
Anzahl Strophen
28
Anzahl Verse
57
Anzahl Wörter
334
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der Reim“ des Autors Karl Kraus. Der Autor Karl Kraus wurde 1874 in Jičín (WP), Böhmen geboren. Im Jahr 1920 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in München. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 334 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 57 Versen mit insgesamt 28 Strophen. Karl Kraus ist auch der Autor für Gedichte wie „An den Schnittlauch“, „An eine Falte“ und „An einen alten Lehrer“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Reim“ weitere 61 Gedichte vor.

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