Der Ratgeber von Karl Kraus

Was immer sich in meinen Traum gedrängt,
hat stets mit meinem Tage sich vermengt.
 
Doch nimmt der Traum das Leben leicht in Schutz.
An seinem Dunkel klärt sich aller Schmutz.
 
Wie sich im Wechsel da die Dinge drehn,
wird Schönes häßlich, Häßliches wird schön.
 
Schon manche Freundschaft plötzlich mir entschwand,
weil ich durch einen Traum den Freund erkannt.
 
Schon manche Feindschaft habe ich versäumt,
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weil mir einmal vom Feinde hat geträumt.
 
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Der Todfeind, den ich auf der Straße traf,
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das war der Freund von meinem letzten Schlaf.
 
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Der freundlich meinem Tage sich genaht,
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an meiner Nacht übt heimlich er Verrat.
 
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Tagsüber wüßt’ ich nicht, wie mir geschah,
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wenn ich den andern andern Augs besah.
 
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Es narrt mich etwas, doch ich weiß nicht was,
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da ich des Winks der letzten Nacht vergaß.
 
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Zur nächsten erst hängt wieder an dem Flaum
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des Bettes der am Tag vergeßne Traum.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.5 KB)

Details zum Gedicht „Der Ratgeber“

Autor
Karl Kraus
Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
20
Anzahl Wörter
146
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht heißt „Der Ratgeber“ und wurde von dem österreichischen Schriftsteller und Journalisten Karl Kraus verfasst, der von 1874 bis 1936 lebte. Er galt als scharfer Kritiker seiner Zeit, insbesondere in Bezug auf die Medien und Sprache.

Beim ersten Lesen des Gedichts entsteht der Eindruck einer tiefen Reflexion über die Bedeutung und Wirkung von Träumen auf das tägliche Leben und zwischenmenschliche Beziehungen. In einfachen Worten beschreibt das lyrische Ich, wie Träume das Tagesgeschehen beeinflussen, interpretiert und in neues Licht rücken. Träume dienen als eine Form der Reinigung („An seinem Dunkel klärt sich aller Schmutz“) und könnten die Realität verändern oder sogar deformieren („Schönes häßlich, Häßliches wird schön“).

Konkrete Beispiele dafür sind das Verschwinden von Freundschaften durch die neue Erkenntnis, die ein Traum gebracht hat, und der Wechsel in der Beziehung zu einer Person, die zuvor als Feind betrachtet wurde, nachdem von ihr geträumt wurde. Diese Verschiebungen in der Wahrnehmung und den Beziehungen sind jedoch flüchtig und verwirrend für das lyrische Ich, da es die konkreten Erinnerungen an die Träume meist vergisst und nur ein vages Gefühl der Veränderung bleibt.

Formal besteht das Gedicht aus zehn Strophen, jede mit zwei Versen. Diese strenge Symmetrie könnte die Zyklik von Träumen und Wachsein symbolisieren. Die sprachliche Gestaltung zeichnet sich durch eine klare, unverschnörkelte und dennoch poetische Sprache aus, die Gedichte von Kraus' Zeitgenossen unterscheidet. Die doppelten Bedeutungen und Metaphern, die Kraus verwendet, deuten auf eine komplexere Botschaft hin, die hinter seinen scheinbar schlichten Versen liegt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Karl Kraus in „Der Ratgeber“ die transformativen und aufklärerischen Potenziale von Träumen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene untersucht. Gleichzeitig zeigt er aber auch die begrenzte und verwirrende Natur dieser Erkenntnisse auf, da sie im Tagesbewusstsein oft nur schwer greifbar sind. Insgesamt stellt das Gedicht eine Auseinandersetzung mit der menschlichen Psyche und der komplexen Verbindung von Bewusstem und Unbewusstem dar.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der Ratgeber“ des Autors Karl Kraus. Im Jahr 1874 wurde Kraus in Jičín (WP), Böhmen geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1920 zurück. Der Erscheinungsort ist München. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das vorliegende Gedicht umfasst 146 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 20 Versen. Weitere Werke des Dichters Karl Kraus sind „An den Schnittlauch“, „An eine Falte“ und „An einen alten Lehrer“. Zum Autor des Gedichtes „Der Ratgeber“ haben wir auf abi-pur.de weitere 61 Gedichte veröffentlicht.

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