Am Grabe Chamissos von Franz von Dingelstedt

Wo habt ihr denn den Alten hingebettet?
Kommt, führt mich an den eng beschränkten Port,
Darein der Weltumsegler sich gerettet!
 
Ihr zeigt auf eine dürre Scholle dort,
Wo falbes Herbstlaub rieselnd niederregnet;
Dort ruht er, sagt mir euer Trauerwort.
 
O sei, du heilig Dichtergrab, gesegnet;
Du birgst ihn, dem mein Geist viel tausendmal,
Mein sterblich Auge nimmermehr begegnet!
 
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Ich sah ihn nie: an seiner Bilcke Strahl
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Hat meine Kraft sich nicht entzünden sollen;
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Er stand zu hoch, ich ging zu tief im Thal.
 
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Doch in der Brust, in der begeist'rungsvollen,
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Trag' ich sein Bild wohl tiefer und getreuer,
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Als sie in Wort und Farb' es malen wollen.
 
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Ich seh' ihn ganz: der Augen dunkles Feuer,
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Die lichte Stirn, die Brauen stolz geschweift,
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Und streng den Mund, als seien Worte teuer.
 
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So steht er da, die Locken weiß bereift,
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Und in den Flocken, die die Jahre senden,
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Den Lorbeerkranz, zu vollem Grün gereift.
 
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Er selbst ein Fels mit scheitelrechten Wänden,
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Salis y Gomez, ragt er aus der Flut,
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Von Wellendrang umbraust an allen Enden;
 
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Doch in dem Steine schlägt ein Herz voll Glut,
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Ein Herz, das hält die ganze Welt umschlungen,
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Dran wie an Vaterbrust die Menschheit ruht.
 
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Wer hat ihr Leid so laut wie du gesungen
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Und wer wie du gen wild' und zahme Horden
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In ihrem Dienst sein Dichterschwert geschwungen?
 
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Ein Fremdling warst du unserm deutschen Norden,
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In Sitt' und Sprache andrer Stämme Sohn,
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Und wer ist heimischer als du ihm worden?
 
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Nun schläfst du in der fremden Erde schon,
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Und die den Wandernden nicht konnte wiegen,
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Beut ihm ein Grab mit Lorbeer und mit Mohn.
 
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Drauf soll gekreuzt sein Pilgerstecken liegen
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Und unser Banner, das dem Sängerheer
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Voran er trug, zu kämpfen und zu siegen.
 
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Wir aber stehen klagend rings umher,
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Denn gönnen wir ihm die verdiente Rast,
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So gönnten wir den Führer uns noch mehr.
 
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O Zeit der Not! Es stürzen Stamm und Ast,
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Rechts klingt und links die Axt im grünen Wald,
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Gefall'nes Laub wird wirbelnd aufgefaßt.
 
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Die Wolken haben dräuend sich geballt,
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Von Sturmesfurchen ist der See gekräuselt;
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Bald hörst du nur den Herbstwind, welcher kalt
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Durch kahle Forsten, über Stoppeln säuselt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.9 KB)

Details zum Gedicht „Am Grabe Chamissos“

Anzahl Strophen
16
Anzahl Verse
49
Anzahl Wörter
357
Entstehungsjahr
1814 - 1881
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Am Grabe Chamissos“ wurde von Franz von Dingelstedt verfasst, einem deutschen Dichter und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts.

Beim ersten Lesen fällt auf, dass das Gedicht in Form eines Elegie oder Trauergedichts gestaltet ist. Der Autor gedenkt des verstorbenen Dichterkollegen Adelbert von Chamisso, einem bedeutenden deutschen Dichter und Naturforscher des 19. Jahrhunderts, der nebenbei bemerkt auch ein Weltreisender war.

Von Dingelstedt fragt nach dem Ort (dem Grab), an dem Chamisso begraben liegt, und beschreibt die Umgebung als eine Stelle mit Herbstlaub. Das lyrische Ich zollt Respekt vor dem Dichter und drückt Trauer und Bewunderung aus. Es erzählt, dass es Chamisso nie persönlich kennengelernt hat, aber dass es in seiner Vorstellung ein klares Bild von ihm hat.

Das Gedicht spielt auf die Reisen Chamissos an und beschreibt ihn als Felsen inmitten des Meeres - ein starkes, unbeugsames Bild. Chamisso wird als eine bedeutende Figur dargestellt, die durch seine Worte und seine Kunst einen bedeutenden Einfluss auf die Menschen hatte. Seine Zugehörigkeit zu Deutschland, obwohl er ursprünglich aus Frankreich stammt, wird ebenfalls hervorgehoben.

Formal besteht das Gedicht aus sechzehn Strophen mit meistens drei Versen, bis auf die letzte Strophe, die vier Verse hat. Die Anzahl der Silben pro Vers ist relativ konstant, dies unterstützt den rhythmischen Fluss des Gedichts. In Bezug auf die Sprache ist es recht bildhaft und metaphorisch, und das lyrische Ich verwendet eine Reihe von Naturbildern und -symbolen, um seine Gedanken und Gefühle auszudrücken. Die Natur wird dabei als ein Spiegel der eigenen Emotionen und des menschlichen Lebens allgemein genutzt.

Zum Schluss ordnet der Dichter das Werk in die zeitliche Umgebung ein und gibt einen düsteren Ausblick auf die aktuelle Situation, in der er sich befindet, was auf politische oder gesellschaftliche Unruhen hinweisen könnte. Damit endet das Gedicht mit einem traurigen und nachdenklichen Ton, der das Gefühl der Trauer und des Verlusts, das zuvor geäußert wurde, verstärkt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Am Grabe Chamissos“ des Autors Franz von Dingelstedt. 1814 wurde Dingelstedt in Halsdorf (Hessen) geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1830 bis 1881 entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus oder Naturalismus zuordnen. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das 357 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 49 Versen mit insgesamt 16 Strophen. Franz von Dingelstedt ist auch der Autor für Gedichte wie „Auf einem Kirchhof in der Fremde“, „Mir ist, als müßtest du empfinden“ und „Meiner Mutter“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Am Grabe Chamissos“ keine weiteren Gedichte vor.

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