Der Leser von Rainer Maria Rilke

Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?
 
Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis
 
er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
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was unten in dem Buche sich verhielt,
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mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend
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anstießen an die fertig-volle Welt:
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wie stille Kinder, die allein gespielt,
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auf einmal das Vorhandene erfahren;
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doch seine Züge, die geordnet waren,
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blieben für immer umgestellt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.2 KB)

Details zum Gedicht „Der Leser“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
16
Anzahl Wörter
100
Entstehungsjahr
1918
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Rainer Maria Rilke. Rilke, der von 1875 bis 1926 lebte, gehörte der Epoche der literarischen Moderne an.

Beim ersten Eindruck erscheint das Gedicht rätselhaft und reflektiert. Es beschäftigt sich mit einer anonymen Person – dem Leser – und scheint dessen Erfahrungen und inneren Prozesse beim Lesen zu erkunden.

In Inhalt des Gedichts scheint zu sein, dass das lyrische Ich den Prozess des Lesens und die daraus resultierende Verwandlung beschreibt. Der Leser wird als jemand beschrieben, der in die Welt des Buches eintaucht und von der Realität abtaucht, ein Zustand, der nur durch das Umblättern der Seiten unterbrochen wird. Diese tiefgehende Veränderung ist so intensiv, dass selbst die eigene Mutter den Leser nicht wiedererkennen würde. Das lyrische Ich beobachtet die Tiefe der inneren Wandlung, die das Lesen bewirken kann - manchmal weit weg vom Bewusstsein der realen Welt. Am Ende gibt es eine dramatische Wendung, die uns sagt, dass der Leser, nachdem er aus dem Lesen aufgeblickt hat, für immer verändert ist. Seine Perspektive und wie er die Welt wahrnimmt, ist nun unterschiedlich zu dem, was sie vorher war.

Die Struktur des Gedichts besteht aus drei Strophen mit einer unterschiedlichen Anzahl an Versen (4,4,8), was der Freiheit und dem erzählerischen Fluss der Moderne entspricht. Sprachlich dominieren metaphorische und bildhafte Ausdrücke, die die inneren Vorgänge und surrealen Aspekte der Leseerfahrung betonen. Besonders deutlich wird dies in Metaphern wie „sein Gesicht wegsenken aus dem Sein“ und der Gegensätzlichkeit von „nehmen“ und „geben“, die eine Interaktion zwischen der realen und der Buchwelt suggeriert. Der Gebrauch dieser Gestaltungsmittel intensiviert den Eindruck, dass das Lesen eine transformative, nahezu magische Erfahrung ist.

Zusammenfassend scheint Rilke in diesem Gedicht die tiefgreifende Wirkung des Lesens auf den Menschen hervorzuheben. Durch das Eintauchen in eine andere Welt kann der Leser seine Sehweise und sein Verständnis der Realität verändern; dies ist eine kraftvolle Aussage über die transformative Macht der Literatur. Dabei ist seine Sprache gewählt und ausdrucksstark, was die Intensität dieses Prozesses unterstreicht. Dabei lässt Rilke erahnen, dass er nicht nur als Autor, sondern auch als leidenschaftlicher Leser diese Erfahrungen gemacht hat.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der Leser“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Rainer Maria Rilke. Geboren wurde Rilke im Jahr 1875 in Prag. Im Jahr 1918 ist das Gedicht entstanden. In Leipzig ist der Text erschienen. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Bei Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 100 Wörter. Es baut sich aus 3 Strophen auf und besteht aus 16 Versen. Rainer Maria Rilke ist auch der Autor für Gedichte wie „Advent“, „Allerseelen“ und „Als ich die Universität bezog“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Leser“ weitere 338 Gedichte vor.

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