Der Lesende von Rainer Maria Rilke

Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draußen hörte ich nichts mehr:
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. –
Auf einmal sind die Seiten überschienen
und statt der bangen Wortverworrenheit
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steht: Abend, Abend … überall auf ihnen;
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ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreißen
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die langen Zeilen, und die Worte rollen
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von ihren Fäden fort wohin sie wollen …
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Da weiß ich es: über den übervollen
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glänzenden Gärten sind die Himmel weit;
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die Sonne hat noch einmal kommen sollen. –
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Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
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Zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
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dunkel auf langen Wegen gehn die Leute,
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und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
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hört man das Wenige, das noch geschieht.
 
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Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
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wird nichts befremdlich sein und alles groß.
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Dort draußen ist, was ich hier drinnen lebe,
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und hier und dort ist alles grenzenlos;
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nur daß ich mich noch mehr damit verwebe,
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wenn meine Blicke an die Dinge passen
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und an die ernste Einfachheit der Massen, –
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da wächst die Erde über sich hinaus.
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Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
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der erste Stern ist wie das letzte Haus.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.1 KB)

Details zum Gedicht „Der Lesende“

Anzahl Strophen
2
Anzahl Verse
31
Anzahl Wörter
217
Entstehungsjahr
1906
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Der Lesende“ stammt von dem deutschsprachigen Dichter Rainer Maria Rilke, der von 1875 bis 1926 lebte. Dies platziert das Gedicht in der literarischen Epoche der Moderne, genauer in der Zeit des Symbolismus und der frühen Avantgarde.

In dem Gedicht beschreibt das lyrische Ich den Prozess des Lesens an einem regnerischen Nachmittag, während es von der Außenwelt durch das Buch getrennt ist. Es beschreibt eine tiefe Versenkung in die Lektüre, bis sich das Bewusstsein für die Realität scheinbar auflöst. Das lyrische Ich spricht von Wortverworrenheit, die durch das Wort „Abend“ ersetzt wird. Das lyrische Ich fühlt sich so tief in das Buch hineingezogen, dass es das Gefühl für Zeit und Raum verliert und sich stattdessen in der abstrakten Welt der Literatur verliert. Es ist eine Darstellung des Lesens als Reflexion und Kontemplation, als tiefe Introspektion und als Mittel zur Selbstentdeckung.

In Bezug auf die Form besteht das Gedicht aus jeweils einer Einheit von 21 Versen und einer zweiten Strophe von 10 Versen. Rilke verwendet kein festes Reimschema, was typisch für die moderne Lyrik ist. Die Sprache ist metaphorisch und bildreich: In den Zeilen überträgt Rilke die physische Welt auf die intellektuelle Welt des Buches, indem er sie als „Seiten“ beschreibt, die plötzlich hell und glänzend werden, und als „Zeilen“, die lang und weit werden. Er nutzt den Gegensatz zwischen der Dunkelheit und der Welt der Lektüre, um die transformative Macht des Lesens zu betonen.

Aus sprachlicher Hinsicht sind besonders die zahlreichen Metaphern bemerkenswert. Sie schaffen eine intensive Atmosphäre der inneren Versenkung und der Kontemplation. Durch den Wechsel von konkreten zu abstrakten Bildern und vom Kleinen zum Großen schafft Rilke einen starken Kontrast und hebt dadurch die Veränderung des lyrischen Ich durch den Akt des Lesens hervor. Es drückt aus, wie das Lesen den Blickwinkel des Individuums erweitert und die Begrenzungen der physischen Welt überwindet. Es ist eine Hommage an das Lesen als Mittel zur Selbsterkenntnis und zur Exploration von neuen Welten und Ideen.

Weitere Informationen

Rainer Maria Rilke ist der Autor des Gedichtes „Der Lesende“. 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1906. Erscheinungsort des Textes ist Berlin / Leipzig, Stuttgart. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Bei dem Schriftsteller Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 217 Wörter. Es baut sich aus 2 Strophen auf und besteht aus 31 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Rainer Maria Rilke sind „Allerseelen“, „Als ich die Universität bezog“ und „Am Kirchhof zu Königsaal“. Zum Autor des Gedichtes „Der Lesende“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 338 Gedichte vor.

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