Einem Knaben von Nikolaus Lenau

Was trauerst du, mein schöner Junge,
Du Armer, sprich, was weinst du so?
Daß treulos dir mit raschem Schwunge
Dein liebes Vögelein entfloh?
 
Du blickest bald in deiner Trauer
Hinüber dort nach jenem Baum,
Bald wieder nach dem leeren Bauer
Blickst du in deinem Kindestraum.
 
Du legst so schlaff die kleinen Hände
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An deines Lieblings ödes Haus,
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Und prüfest rings die Sprossenwände
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Und fragst: ?Wie kam er nur heraus?"
 
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An jenem Baume hörst du singen
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Den Fernen, den dein Herz verlor,
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Und unaufhaltsam eilig dringen
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Die heißen Thränen dir hervor.
 
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Gieb acht, gieb acht, o lieber Knabe,
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Daß du nicht dastehst trauernd einst,
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Und um die beste, schönste Habe
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Des Menschenlebens bitter weinst!
 
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Daß du die Hand, die sturmerprobte,
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Nicht legst, ein Mann, an deine Brust,
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Darin so mancher Schmerz dir tobte,
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Dir säuselte so manche Lust;
 
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Daß du die Hand mit wildem Krampfe
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Nicht drückest deinem Busen ein,
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Aus dem die Unschuld dir im Kampfe
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Entflohn, das schöne Vögelein.
 
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Dann hörst du flüstern ihre leisen
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Gesänge aus der Ferne her;
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Neigst hin dich zu den süßen Weisen,
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Das Vöglein aber kehrt nicht mehr.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Einem Knaben“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
32
Anzahl Wörter
184
Entstehungsjahr
1802 - 1850
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Einem Knaben“ wurde von dem österreichischen Dichter Nikolaus Lenau verfasst, der im 19. Jahrhundert lebte. Lenau gilt als wichtige Figur der deutschen romantischen Literatur.

Beim ersten Lesen fällt auf, dass das Gedicht stark von traurigen und melancholischen Gefühlen geprägt ist. Der Hauptfokus liegt auf einem Jungen, dem offenbar ein geliebter Vogel entflogen ist.

Das Gedicht gibt in einfacher Form wieder, wie der Knabe trauert und unverständlich ist, wie der Vogel entfliehen konnte. Es werden nicht nur seine inneren Gefühle und sein Unverständnis beschrieben, sondern auch seine äußeren Handlungen – wie das Betrachten des leeren Käfigs und das Suchen nach dem Vogel im Baum. Im späteren Verlauf gibt das lyrische Ich dem Jungen eine Warnung. Es scheint, dass hier die Flucht des Vogels metaphorisch für den Verlust der Unschuld oder der Jugend interpretiert wird. In den letzten Strophen wird der Knabe dazu ermahnt, dass er als Erwachsener aufpassen soll, um nicht dieselbe Trauer zu durchleben, wie sie dem lyrischen Ich offensichtlich widerfahren ist.

In Bezug auf die Form und Sprache ist das Gedicht in acht Vierzeilenstrophen mit einem umarmenden Reim (ABBA) geschrieben. Die Sprache ist eher formell und altertümlich, was zur melancholischen Stimmung des Gedichts beiträgt. Es hat auch eine gewisse musikalische Qualität durch seine gleichmäßige Rhythmik, die durch die anhaltende Traurigkeit des Jungen durchbrochen wird. Dies erzeugt eine spannende Dynamik zwischen Form und Inhalt.

Insgesamt ist dieses Gedicht ein tiefgehender Kommentar zu den unvermeidlichen Verlusten, die mit dem Erwachsenwerden einhergehen. Durch die symbolische Verwendung des entflohenen Vogels betont Lenau die flüchtige und vergängliche Natur der Unschuld und Jugend.

Weitere Informationen

Nikolaus Lenau ist der Autor des Gedichtes „Einem Knaben“. Geboren wurde Lenau im Jahr 1802 in Csatád. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1818 und 1850. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Biedermeier zuordnen. Der Schriftsteller Lenau ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 184 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 32 Versen mit insgesamt 8 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Nikolaus Lenau sind „An die Entfernte“, „An den Wind“ und „Schilflied“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Einem Knaben“ weitere 51 Gedichte vor.

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