Lied der Kreuzfahrer von Novalis

Das Grab steht unter wilden Heiden;
Das Grab, worin der Heiland lag,
Muß Frevel und Verspottung leiden
Und wird entheiligt jeden Tag.
Es klagt heraus mit dumpfer Stimme:
Wer rettet mich vor dieser Stimme!
 
Wo bleiben seine Heldenjünger?
Verschwunden ist die Christenheit!
Wer ist des Glaubens Wiederbringer?
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Wer nimmt das Kreuz in dieser Zeit?
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Wer bricht die schimpflichsten der Ketten
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Und wird das heil'ge Grab erretten?
 
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Gewaltig geht auf Land und Meeren
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In tiefster Nacht ein heil'ger Sturm;
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Die trägen Schläfer aufzustören,
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Umbraust er Lager, Stadt und Turm.
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Ein Klageschrei um alle Zinnen:
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Auf, träge Christen, zieht von hinnen!
 
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Es lassen Engel aller Orten
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Mit ernstem Antlitz stumm sich sehn,
21 
Und Pilger sieht man vor den Pforten
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Mit kummervollen Wangen stehn;
23 
Sie klagen mit den bängsten Tönen
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Die Grausamkeit der Sarazenen.
 
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Es bricht ein Morgen, rot und trübe,
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Im weiten Land der Christen an.
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Der Schmerz der Wehmut und der Liebe
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Verkündet sich bei jedermann.
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Ein jedes greift nach Kreuz und Schwerte
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Und zieht entflammt von seinem Herde.
 
31 
Ein Feuereifer tobt im Heere,
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Das Grab des Heilands zu befrei'n.
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Sie eilen fröhlich nach dem Meere,
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Um bald auf heil'gem Grund zu sein.
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Auch Kinder kommen noch gelaufen,
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Und mehren den geweihten Haufen.
 
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Hoch weht das Kreuz im Siegspaniere,
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Und alte Helden stehn voran.
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Des Paradieses sel'ge Thüre
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Wird frommen Kriegern aufgethan;
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Ein jeder will das Glück genießen,
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Sein Blut für Christus zu vergießen.
 
43 
Zum Kampf, ihr Christen! Gottes Scharen
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Ziehn mit in das gelobte Land,
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Bald wird der Heiden Grimm erfahren
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Des Christengottes Schreckenshand.
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Wir waschen bald mit frohem Mute
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Das heil'ge Grab mit Heidenblute.
 
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Die heil'ge Jungfrau schwebt, getragen
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Von Engeln ob der wilden Schlacht,
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Wo jeder, den das Schwert geschlagen,
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In ihrem Mutterarm erwacht.
53 
Sie neigt sich mit verklärter Wange
54 
Herunter zu dem Waffenklange.
 
55 
Hinüber zu der heil'gen Stätte!
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Des Grabes dumpfe Stimme tönt!
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Bald wird mit Sieg und mit Gebete
58 
Die Schuld der Christenheit versöhnt!
59 
Das Reich der Heiden wird sich enden,
60 
Ist erst das Grab in unsern Händen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28 KB)

Details zum Gedicht „Lied der Kreuzfahrer“

Autor
Novalis
Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
60
Anzahl Wörter
332
Entstehungsjahr
1772 - 1801
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Das präsentierte Gedicht ist „Lied der Kreuzfahrer“ von Novalis. Novalis gehört zur Literatur der Romantik und lebte von 1772 bis 1801.

Beim ersten Lesen hinterlässt das Gedicht einen stark religiösen Eindruck. Es thematisiert das Leiden Christi, das Grab und die Wichtigkeit des Glaubens, ganz im Sinne der von Novalis vertretenen romantischen Auffassung, nach der das Göttliche und Überirdische eine entscheidende Rolle spielen.

Inhaltlich spricht das lyrische Ich über das Grab des Heilands, welches respektlos behandelt und täglich entweiht wird. Es fragt, wer das Grab retten und wer den Glauben in dieser Zeit wiederbringen wird. Es beschreibt einen aufkommenden Sturm, der die Christen dazu aufruft, zu handeln und das Grab zu befreien. Engel erscheinen im Gedicht und Pilger sind zu sehen, die über die Grausamkeit der Eindringlinge klagen. Es endet mit der Ausführung des Plans, das Grab mit dem Blut der „Ungläubigen“ zu reinigen.

Aus der Perspektive des lyrischen Ichs wird ein starkes Glaubensbedürfnis und eine Bestimmung ausgedrückt, das Leid und die Entweihung zu beenden und das Grab zu retten, was das religiöse Engagement und die Bereitschaft zum Opfer hervorhebt.

Die Sprache des Gedichts ist leicht verständlich, aber kraftvoll und eindringlich. Der Rhythmus und das Reimschema verleihen dem Text einen liedhaften Charakter, was den Titel „Lied der Kreuzfahrer“ unterstützt. Die Wahl der Worte vermittelt Empfindungen von Leid, Verspottung, Grausamkeit, aber auch von Entschlossenheit und Eifer.

Der formale Aspekt des Gedichts ist streng strukturiert. Jede der zehn Strophen besteht aus sechs Zeilen, wobei sich die Endbetonungen abwechseln (Kreuzreim). Dies sorgt für einen einheitlichen und harmonischen Klang, der den dramatischen Inhalt jedoch betont.

Zusammengefasst handelt das Gedicht „Lied der Kreuzfahrer“ von Novalis von einem leidenschaftlichen und entschlossenen Aufruf zur Verteidigung des christlichen Glaubens und der Heiligtümer. Es ist ein gutes Beispiel für die romantische Betonung des Überirdischen, das in diesem Fall durch das religiöse Motiv ausgedrückt wird.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Lied der Kreuzfahrer“ ist Novalis. Im Jahr 1772 wurde Novalis geboren. In der Zeit von 1788 bis 1801 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Romantik zuordnen. Bei Novalis handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Die Romantik ist eine Epoche der Kunstgeschichte, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins späte 19. Jahrhundert hinein die Literatur, Musik, Kunst und Philosophie prägte. Auf die Literatur beschränkt betrachtet reichen die Auswirkungen der Epoche lediglich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hinein. Bis in das Jahr 1804 hinein spricht man in der Literatur von der Frühromantik, bis 1815 von der Hochromantik und bis 1848 von der Spätromantik. Die Literaturepoche der Romantik entstand in Folge politischer Krisen und gesellschaftlicher Umbrüche. In ganz Europa fand ein Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft statt. Gleichzeitig bildete sich ein bürgerliches Selbstbewusstsein heraus. Technologischer Fortschritt und Industrialisierung sind prägend für diese Zeit. Wesentliche Motive in der Lyrik der Romantik sind die Ferne und Sehnsucht sowie das Gefühl der Heimatlosigkeit. Andere Motive sind das Fernweh, das Nachtmotiv oder die Todessehnsucht. So symbolisierte die Nacht nicht nur die Dunkelheit, sondern auch das Mysteriöse, Geheimnisvolle und galt als Quelle der Liebe. Merkmale der Romantik sind die Hinwendung zur Natur, die Weltflucht oder der Rückzug in Traumwelten. Insbesondere ist aber auch die Idealisierung des Mittelalters aufzuzeigen. Architektur und Kunst des Mittelalters wurden von den Vertretern der Romantik wieder geschätzt. Die äußere Form von romantischer Literatur ist völlig offen. Kein festgesetztes Schema grenzt die Literatur ein. Dies steht ganz im Gegensatz zu den strengen Normen der Klassik. In der Romantik entstehen erstmals Sammlungen so genannter Volkspoesie. Bekannte Beispiele dafür sind Grimms Märchen und die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn. Doch bereits unmittelbar nach Erscheinen wurde die literarische Bearbeitung (Schönung) durch die Autoren kritisiert, die damit ihre Rolle als Chronisten weit hinter sich ließen.

Das vorliegende Gedicht umfasst 332 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 60 Versen. Weitere Werke des Dichters Novalis sind „Der Sänger geht auf rauhen Pfaden“, „Wenn die Rosen blühen“ und „Lied des Einsiedlers“. Zum Autor des Gedichtes „Lied der Kreuzfahrer“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 14 Gedichte vor.

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