Der offene Schrank von Nikolaus Lenau

Mein liebes Mütterlein war verreist
und kehrte nicht heim, und lag in der Grube;
da war ich allein und recht verwaist,
und traurig trat ich in ihre Stube.
 
Ihr Schrank stand offen, ich fand ihn noch heut,
wie sie, abreisend, ihn eilig gelassen,
wie alles man durcheinanderstreut,
wenn vor der Tür die Pferde schon passen.
 
Ein aufgeschlagnes Gebetbuch lag
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bei mancher Rechnung, von ihr geschrieben;
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von ihrem Frühstück am Scheidetag
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war noch ein Stücklein Kuchen geblieben.
 
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Ich las das aufgeschlagne Gebet,
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es war: wie eine Mutter um Segen
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für ihre Kinder zum Himmel fleht;
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mir pochte das Herz in bangen Schlägen.
 
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Ich las ihre Schrift, und ich verbiß
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nicht länger meine gerechten Schmerzen,
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ich las die Zahlen, und ich zerriß
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die Freudenrechnung in meinem Herzen.
 
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Zusammen sucht ich den Speiserest,
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das kleinste Krümlein, den letzten Splitter,
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und hätt es mir auch den Hals gepreßt,
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ich aß vom Kuchen und weinte bitter.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.8 KB)

Details zum Gedicht „Der offene Schrank“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
24
Anzahl Wörter
151
Entstehungsjahr
1802 - 1850
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der offene Schrank“ stammt von dem österreichisch-ungarischen Dichter Nikolaus Lenau, der von 1802 bis 1850 lebte. Aufgrund des Lebensdatums des Autors lässt sich das Gedicht zeitlich der Epoche der Romantik, die von etwa 1795 bis 1848 andauerte, zuordnen.

Der erste Eindruck des Gedichts ist melancholisch und traurig. Das lyrische Ich scheint durch ein Erlebnis tief bewegt zu sein, das mit dem Tod seiner Mutter zusammenhängt.

Im Gedicht begibt sich das lyrische Ich in das Zimmer seiner verstorbenen Mutter. Der offene Schrank, verweist auf das plötzliche und unerwartete Ableben der Mutter, da sie ihn wohl in Eile verlassen musste. Der erste Blick in den Schrank offenbart das chaotische Durcheinander und die Hektik ihrer schnellen Abreise. Das lyrische Ich findet ein aufgeschlagenes Gebetbuch, Rechnungen und Reste von ihrem letzten Frühstück: ein Stück Kuchen. Das Lyrische Ich liest das Gebet, das eine Mutter um Segen für ihre Kinder bittet, was ihm starke Emotionen hervorruft. Darüber hinaus liest es auch die von der Mutter verfassten Rechnungen, was seine Schmerzen nur verstärkt.

Das Gedicht ist in einem regelmäßigen Versmaß verfasst, was auf den formalen Standard der Romantik verweist. Die Sprache ist direkt und ausdrucksstark und bringt das Gefühl von Verlust und Einsamkeit des lyrischen Ichs zum Ausdruck. Der Gebrauch von Alltagselementen wie dem Schrank, dem Gebetbuch, den Rechnungen und dem Kuchen verleihen dem Gedicht eine Realitätsnähe und Lebendigkeit.

Zusammengefasst handelt es sich bei „Der offene Schrank“ um ein emotionales und tiefgehendes Gedicht, das den plötzlichen Verlust und die damit verbundenen starken Emotionen des lyrischen Ichs auf eine eindringliche und berührende Weise behandelt. Das Gedicht ist ein Ausdruck der Trauer und der Einsamkeit, aber auch der Liebe und Wertschätzung, die das lyrische Ich für seine verstorbene Mutter empfindet.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der offene Schrank“ des Autors Nikolaus Lenau. Lenau wurde im Jahr 1802 in Csatád geboren. Im Zeitraum zwischen 1818 und 1850 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Biedermeier zuordnen. Der Schriftsteller Lenau ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 24 Versen mit insgesamt 6 Strophen und umfasst dabei 151 Worte. Nikolaus Lenau ist auch der Autor für Gedichte wie „An einem Grabe“, „An die Entfernte“ und „An den Wind“. Zum Autor des Gedichtes „Der offene Schrank“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 51 Gedichte vor.

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