Die neue Eisenbahn von Detlev von Liliencron

Der Schädel ruft: ?Ich bin Ambassadeur,
ich bin Baron und ich vermittelte
den Frieden zwischen Dänemark und Holland.
Wer rüttelt meines Marmorsarges Wände?
Wer sprengt den Deckel? Auferstehungstag?
Gemeines Lumpenvolk, Leibeigene
entrissen meiner Brust das blaue Band,
das blaue Band des Elefantenordens.
Und meines Königs, Friederich des Fünften,
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des gütigen, des gnädigen Herren Bild,
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auf Elfenbein gemalt, an meinem Herzen,
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mir von ihm selbst geschenkt in launger Stunde,
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sie rauben es mir weg! Hallunkenpack!"
 
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Doch von der Eisenbahn die Arbeiter,
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enteignet hat der Staat die Grabkapelle,
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verhöhnen das Geschrei des alten Schädels.
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Von ihnen einer schenkt das Königsbild
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der Pockenliese in der Bretterbude,
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die Schnaps ausschenkt und Schlafstellen vermietet.
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Und mit dem Bild als Schmuck erscheint sie dann
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am Sonntag mit den Arbeitern zum Tanz.
 
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Der Schädel ruft: ?Ich bin Ambassadeur,
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ich bin Baron und ich vermittelte
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den Frieden zwischen Dänemark und Holland."
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Das hilft ihm nichts. Die halbbetrunknen Männer
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erhöhen ihn auf eine Seitenleiste
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des Sandwagens, der hin und her kariolt.
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Dann dient den plumpen Fäusten er als Ball.
 
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Der Schädel ruft: ?Ich bin Ambassadeur,
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ich bin Baron und ich vermittelte
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den Frieden zwischen Dänemark und Holland."
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Das hilft ihm nichts. Denn müde werfen sie
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zu einer toten Katz ihn in den Schmutz.
 
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Der Schädel schreit: ?Ich bin Ambassadeur,
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ich bin Baron und ich vermittelte
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den Frieden zwischen Dänemark und Holland."
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Das hilft ihm alles nichts. Ihn überschreit
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der erste Pfiff der neuen Eisenbahn.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.7 KB)

Details zum Gedicht „Die neue Eisenbahn“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
38
Anzahl Wörter
235
Entstehungsjahr
1844 - 1909
Epoche
Naturalismus

Gedicht-Analyse

Detlev von Liliencron, ein deutscher Lyriker und Erzähler des 19./20. Jahrhunderts, ist der Autor dieses Gedichtes „Die neue Eisenbahn“. Anhand des Autors und seiner Lebensdaten lässt sich das Gedicht zeitlich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einordnen. Im Kontext der industriellen Revolution stellt Liliencron hier eine Konfrontation zwischen einer aristokratischen Vergangenheit und einer modernen, technisch fortgeschrittenen Gegenwart dar.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht surreal und grotesk, da es Stimmen und Emotionen einem menschlichen Schädel zuweist und die respektlose Behandlung eines einst hochrangigen Adligen darstellt.

Inhaltlich erzählt das Gedicht die Geschichte eines Schädels, der von Arbeitern gefunden wird, während sie eine neue Eisenbahnlinie bauen. Der Schädel verkörpert das lyrische Ich und ist alles, was von einem einst hochrangigen Botschafter und Baron übrig geblieben ist. In gereimter Form beklagt der Schädel seine Degradierung, aber die Arbeiter zeigen wenig bis gar keinen Respekt und nutzen ihn als Spielzeug, bevor sie ihn schließlich wegwerfen.

Formal besteht das Gedicht aus fünf Strophen mit unterschiedlicher Versanzahl, beinhaltet aber dennoch einen Refrain, der in etwas abgeänderter Form in jeder Strophe wiederkehrt. Durch die Wiederholung des Refrains unterstreicht der Autor die Verzweiflung und Vergeblichkeit des lyrischen Ichs. Die Sprache des Gedichts ist klar und unprätentiös, was den Kontrast zwischen der aristokratischen Vergangenheit und der rauen, arbeitenden Gegenwart noch weiter vertieft.

Insgesamt lässt sich Liliencrons Gedicht als eine satirische Kritik an den gesellschaftlichen Umbrüchen seiner Zeit interpretieren. Der Adel mit all seinen Privilegien und Riten wird durch die rücksichtslose Modernisierung und den technologischen Fortschritt buchstäblich aus dem Boden gerissen und entwertet. Das Gedicht könnte ein Kommentar zur Vorläufigkeit aller menschlichen Errungenschaften und Status sein und betont die Unausweichlichkeit des Fortschritts.

Weitere Informationen

Detlev von Liliencron ist der Autor des Gedichtes „Die neue Eisenbahn“. Im Jahr 1844 wurde Liliencron in Kiel geboren. Zwischen den Jahren 1860 und 1909 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Naturalismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Liliencron ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 235 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 38 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Detlev von Liliencron sind „Trutz, Blanke Hans“, „Weihnachtslied“ und „Schöne Junitage“. Zum Autor des Gedichtes „Die neue Eisenbahn“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 63 Gedichte vor.

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