Der schwarze Tod von Hermann Lingg

Erzitt're Welt, ich bin die Pest,
Ich komm' in alle Lande
Und richte mir ein großes Fest;
Mein Blick ist Fieber, feuerfest
Und schwarz ist mein Gewande.
 
Ich komme von Ägyptenland
In roten Nebelschleiern,
Am Nilusstrand im gelben Sand
Entsog' ich Gift dem Wüstenbrand
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Und Gift aus Dracheneiern.
 
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Tal ein und aus, bergauf und ab,
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Ich mäh' zur öden Heide
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Die Welt mit meinen Wanderstab,
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Ich setz' vor jedes Haus ein Grab
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Und eine Trauerweide.
 
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Ich bin der große Völkertod,
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Ich bin das große Sterben,
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Es geht vor mir die Wassersnot,
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Ich bringe mit das teure Brot,
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Den Krieg tu' ich beerben.
 
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Es hilft euch nichts, wie weit ihr floht,
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Mein sausend Roß geht weiter,
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Ich bin der schnelle schwarze Tod,
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Ich überhol' das schnelle Boot
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Und auch den schnellsten Reiter.
 
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Dem Kaufmann trägt man mich ins Haus
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Zugleich mit seiner Ware;
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Er freut sich hoch, er lacht beim Schmaus,
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Ich steig' aus seinem Schatz heraus
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Und streck' ihn auf die Bahre.
 
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Mir ist auf hohem Felsvorsprung
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Kein Schloß zu hoch, ich komme;
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Mir ist kein junges Blut zu jung,
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Kein Leib ist mir gesund genung,
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Mit ist kein Herz zu fromme.
 
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Wem ich nur schau ins Aug' hinein,
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Der mag kein Licht mehr sehen;
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Wem ich gesegnet Brot und Wein,
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Der hungert nur nach Staub allein,
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Den durstet's, heimzugehen.
 
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Im Osten starb der große Chan,
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Auf Indiens Zimmel-Inseln
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Starb Negerfürst und Muselmann,
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Man hört' auch nachts in Ispahan
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Beim Aas die Hunde winseln.
 
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Byzanz war eine schöne Stadt,
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Und blühend lag Venedig,
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Nun liegt das Volk wie welkes Blatt,
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Und wer das Laub zu sammeln hat,
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Wird auch der Mühe ledig.
 
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An Nordland's letztem Felsenriff
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In einen kleinen Hafen
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Warf ich ein ausgestorbnes Schiff,
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Und alles, was mein Hauch ergriff,
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Das mußte schlafen, schlafen.
 
56 
Sie liegen in der Stadt umher,
57 
Ob Tag und Monde schwinden;
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Es zählt kein Mensch die Stunden mehr,
59 
Nach Jahren wird man öd und leer
60 
Die Stadt der Toten finden.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.9 KB)

Details zum Gedicht „Der schwarze Tod“

Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
60
Anzahl Wörter
325
Entstehungsjahr
1820 - 1905
Epoche
Biedermeier,
Junges Deutschland & Vormärz,
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der schwarze Tod“ wurde vom deutschen Dichter Hermann Lingg verfasst (* 22. Januar 1820, † 18. Juni 1905). Es kann entsprechend dem Lebenszeitraum des Autors in das 19. Jahrhundert eingeordnet werden, eine Epoche, die als Zeit des Biedermeier und später der Jahrhundertwende bekannt ist.

Bereits beim ersten Lesen des Gedichts wird deutlich, dass es sich hierbei um eine düstere, bedrohlich wirkende Thematik handelt. Das lyrische Ich identifiziert sich als die Pest und als der Tod, es spricht direkt, bedrängend und apokalyptisch zur Welt.

Inhaltlich stellt sich das lyrische Ich als die Pest vor, die sich über die Welt ausbreitet und Leben vernichtet. Es erzählt von seinem Ursprung, seiner Reise durch die Welt und den folgenden Auswirkungen. Dabei wird weder Status noch Ort respektiert, es sucht sich keine spezifischen Opfer aus, keiner kann sich vor ihm verstecken. Am Ende des Gedichts liegt die Welt öde und leer, alle Menschen sind tot.

Formal ist das Gedicht in 12 Strophen zu je 5 Versen eingeteilt. Jede Strophe erzählt einen Abschnitt der Reise des Todes, des apokalyptischen Reiters.

Die Sprache des Gedichts ist klar und direkt, fast schon brutaler Realismus. Es wird eine apokalyptische Bildsprache genutzt: Pest, schwarzer Tod, Grab, Bahre, Aas – all das zeigt auf unverblümte Weise die absolute Vernichtung, für die das lyrische Ich steht. Auch der häufige Gebrauch des Personalpronomens „Ich“ unterstreicht die mächtige, allgegenwärtige Rolle der Pest als vernichtende Kraft.

Insgesamt ist das Gedicht eine düstere, beklemmende Darstellung einer Seuchen- oder Kriegszeit aus der Perspektive der Todesmacht selbst. Es zeigt auf eindrückliche Weise, wie der Tod als unbesiegbarer Gegner auftreten kann und regt damit zum Nachdenken an.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der schwarze Tod“ des Autors Hermann Lingg. 1820 wurde Lingg in Lindau am Bodensee geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1836 bis 1905 entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus, Naturalismus oder Moderne zu. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 325 Wörter. Es baut sich aus 12 Strophen auf und besteht aus 60 Versen. Weitere Werke des Dichters Hermann Lingg sind „Vergilbte Blätter“, „Als wie ein Frühling mich entzückte“ und „Wenn etwas in dir leise spricht“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der schwarze Tod“ weitere 20 Gedichte vor.

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