Ottilie von Ferdinand von Saar

Es hat der ernste Gang der Jahre
Dein Antlitz leise schon gekerbt
Und dir die dunkelbraunen Haare
Zu mattem Silber fast entfärbt.
 
Doch hoch und schlank sind noch die Glieder,
Die du so leicht im Gange regst,
Und reich hängt deine Flechte nieder,
Wenn du sie tief im Nacken trägst.
 
Und Stunden gibt es, wo die ganze
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Zurückgedrängte Jugend bricht
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Aus deinem Aug mit scheuem Glanze,
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Der von verlornem Leben spricht.
 
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Dann will es schmerzlich mich durchsprühen,
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Und küssen möcht ich deinen Mund;
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Du fühlst es, und mit sanftem Glühen
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Erbebst du tief im Herzensgrund.
 
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So bebt des Herbstes letzte Traube,
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Vergessen von des Winzers Hand,
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Mit letzter Glut im fahlen Laube,
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Wenn sie ein später Wandrer fand.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.4 KB)

Details zum Gedicht „Ottilie“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
20
Anzahl Wörter
118
Entstehungsjahr
1833 - 1906
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Ferdinand von Saar. Er wurde am 30. September 1833 geboren und starb am 24. Juli 1906. Von Saar zählt zu den bedeutenden Vertretern der österreichischen Literatur des Realismus. Das Gedicht „Ottilie“ lässt sich daher zeitlich in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts einordnen.

Beim ersten Lesen erweckt das Gedicht den Eindruck einer melancholischen und gleichzeitig liebevollen Würdigung einer Frau namens Ottilie. Trotz der Spuren des Alters, die das lyrische Ich bei ihr bemerkt, scheint es sie sehr zu schätzen und zu bewundern.

Inhaltlich beschreibt das Gedicht das Bild einer älteren Frau. Das lyrische Ich stellt fest, dass der Lauf der Jahre Spuren in Ottilies Gesicht hinterlassen hat (Verse 1-4). Trotzdem bemerkt es ihre lebendige Vitalität und Beweglichkeit (Verse 5-8). Es gibt Momente, in denen Ottilie scheinbar jünger erscheint und das verlorene Leben in ihren Augen aufscheint (Verse 9-12). Diese Momente rühren das lyrische Ich zutiefst und wecken in ihm den Wunsch, Ottilie zu küssen (Verse 13-16). Der Anblick Ottilies wird mit einer vergessenen Traube im Herbst verglichen, die trotz ihrer Verlassenheit immer noch eine gewisse Lebhaftigkeit ausstrahlt (Verse 17-20).

Formal besteht das Gedicht aus fünf gleich aufgebauten Vierzeilern. Die Kreuzreime und der durchgehende fünfhebige Jambus verleihen dem Text einen rhythmischen, leicht fließenden Charakter. Die Sprache ist bildreich und sinnlich, wobei die Naturmetaphern (z.B. das Entfärben der Haare wie bei Silber, der Verweis auf die Traube und das Herbstlaub) sowohl das Thema Zeit und Vergänglichkeit verstärken als auch zum Ausdruck von Emotionen und Stimmungen dienen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gedicht „Ottilie“ eine liebevolle Porträtierung einer älter werdenden Frau ist, in der das lyrische Ich, trotz der sichtbaren Spuren des Alterns, ihre Schönheit und Vitalität anerkennt und schätzt. Es ist ein Ausdruck der Empfindsamkeit und einer tiefen Verbundenheit, die von Zeit und Alter unangetastet bleibt.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Ottilie“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Ferdinand von Saar. 1833 wurde Saar in Wien geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1849 bis 1906 entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Realismus zuordnen. Saar ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 20 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 118 Worte. Weitere Werke des Dichters Ferdinand von Saar sind „Arbeitergruß“, „Trauer“ und „Landschaft im Spätherbst“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Ottilie“ keine weiteren Gedichte vor.

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