Der Gesang der Okeaniden von Heinrich Heine
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Abendlich blasser wird es am Meere, |
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Und einsam, mit seiner einsamen Seele, |
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Sitzt dort ein Mann auf dem kahlen Strand, |
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Und schaut, todtkalten Blickes, hinauf |
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Nach der weiten, todtkalten Himmelswölbung, |
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Und schaut auf das weite, wogende Meer, |
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Und über das weite, wogende Meer, |
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Wie Lüftesegler, ziehn seine Seufzer, |
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Und kehren wieder, trübselig, |
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Und hatten verschlossen gefunden das Herz, |
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Worin sie ankern wollten – |
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Und er stöhnt so laut, daß die weißen Möven, |
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Aufgescheucht aus den sandigen Nestern, |
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Ihn heerdenweis’ umflattern, |
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Und er spricht zu ihnen die lachenden Worte: |
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Schwarzbeinigte Vögel, |
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Mit weißen Flügeln Meer-überflatternde, |
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Mit krummen Schnäbeln Seewasser-saufende, |
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Und thranigtes Robbenfleisch-fressende, |
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Eu’r Leben ist bitter wie Eure Nahrung! |
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Ich aber, der Glückliche, koste nur Süßes! |
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Ich koste den süßen Duft der Rose, |
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Der Mondschein-gefütterten Nachtigallbraut; |
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Ich koste noch süßere Josty-Baisers, |
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Mit weißer Seligkeit gefüllte; |
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Und das Allersüßeste kost’ ich: |
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Süße Liebe und süßes Geliebtseyn. |
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Sie liebt mich! Sie liebt mich! die holde Jungfrau! |
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Jetzt steht sie daheim, am Erker des Hauses, |
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Und schaut in die Dämm’rung hinaus, auf die Landstraß’, |
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Und horcht, und sehnt sich nach mir – wahrhaftig! |
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Vergebens späht sie umher und sie seufzet, |
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Und seufzend steigt sie hinab in den Garten, |
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Und wandelt in Duft und Mondschein, |
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Und spricht mit den Blumen, erzählet ihnen: |
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Wie ich, der Geliebte, so lieblich bin |
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Und so liebenswürdig – wahrhaftig! |
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Nachher im Bette, im Schlafe, im Traum, |
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Umgaukelt sie selig mein theures Bild, |
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Sogar des Morgens, beim Frühstück, |
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Auf dem glänzenden Butterbrodte, |
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Sieht sie mein lächelndes Antlitz, |
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Und sie frißt es auf vor Liebe – wahrhaftig! |
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Also prahlt er und prahlt er, |
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Und zwischendrein schrillen die Möven, |
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Wie kaltes, ironisches Kichern; |
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Die Dämm’rungsnebel steigen herauf; |
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Aus violettem Gewölk, unheimlich, |
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Schaut hervor der grasgelbe Mond; |
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Hochauf rauschen die Meereswogen, |
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Und tief aus hochauf rauschendem Meer, |
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Wehmüthig wie flüsternder Windzug, |
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Tönt der Gesang der Okeaniden, |
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Der schönen, mitleidigen Wasserfrau’n, |
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Vor allen vernehmbar die liebliche Stimme |
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Der silberfüßigen Peleus-Gattin, |
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Und sie seufzen und singen: |
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O Thor, du Thor! du prahlender Thor! |
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Du kummergequälter! |
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Dahingemordet sind all deine Hoffnungen, |
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Die tändelnden Kinder des Herzens, |
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Und ach! dein Herz, dein Niobe-Herz |
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Versteinert vor Gram! |
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In deinem Haupte wird’s Nacht, |
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Und es zucken hindurch die Blitze des Wahnsinns, |
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Und du prahlst vor Schmerzen! |
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O Thor, du Thor! du prahlender Thor! |
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Halsstarrig bist du wie dein Ahnherr, |
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Der hohe Titane, der himmlisches Feuer |
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Den Göttern stahl und den Menschen gab, |
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Und Geier-gequälet, Felsen-gefesselt, |
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Olympauftrotzte und trotzte und stöhnte, |
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Daß wir es hörten im tiefen Meer, |
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Und zu ihm kamen mit Trostgesang. |
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O Thor, du Thor! du prahlender Thor! |
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Du aber bist ohnmächtiger noch, |
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Und es wäre vernünftig, du ehrtest die Götter, |
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Und trügest geduldig die Last des Elends, |
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Und trügest geduldig so lange, so lange, |
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Bis Atlas selbst die Geduld verliert, |
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Und die schwere Welt von den Schultern abwirft |
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In die ewige Nacht. |
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So scholl der Gesang der Okeaniden, |
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Der schönen, mitleidigen Wasserfrau’n, |
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Bis lautere Wogen ihn überrauschten – |
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Hinter die Wolken zog sich der Mond, |
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Es gähnte die Nacht, |
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Und ich saß noch lange im Dunkeln und weinte. |
Details zum Gedicht „Der Gesang der Okeaniden“
Heinrich Heine
6
88
502
1825–1826
Junges Deutschland & Vormärz
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Der Gesang der Okeaniden“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Heinrich Heine. Geboren wurde Heine im Jahr 1797 in Düsseldorf. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1826. Erscheinungsort des Textes ist Hamburg. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Junges Deutschland & Vormärz kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Heine ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 502 Wörter. Es baut sich aus 6 Strophen auf und besteht aus 88 Versen. Die Gedichte „Allnächtlich im Traume seh’ ich dich“, „Almansor“ und „Als ich, auf der Reise, zufällig“ sind weitere Werke des Autors Heinrich Heine. Zum Autor des Gedichtes „Der Gesang der Okeaniden“ haben wir auf abi-pur.de weitere 535 Gedichte veröffentlicht.
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