Die verlorene Kirche von Ludwig Uhland

Man höret oft im fernen Wald
Von obenher ein dumpfes Läuten,
Doch niemand weiß, von wann es hallt,
Und kaum die Sage kann es deuten.
Von der verlornen Kirche soll
Der Klang ertönen mit den Winden;
Einst war der Pfad von Wallern voll,
Nun weiß ihn keiner mehr zu finden.
 
Jüngst ging ich in dem Walde weit,
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Wo kein betretner Steig sich dehnet;
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Aus der Verderbnis dieser Zeit
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Hatt ich zu Gott mich hingesehnet.
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Wo in der Wildnis alles schwieg,
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Vernahm ich das Geläute wieder,
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Je höher meine Sehnsucht stieg,
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Je näher, voller klang es nieder.
 
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Mein Geist war so in sich gekehrt,
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Mein Sinn vom Klange hingenommen,
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Daß mir es immer unerklärt,
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Wie ich so hoch hinaufgekommen.
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Mir schien es mehr denn hundert Jahr,
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Daß ich so hingeträumet hätte,
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Als über Nebeln, sonnenklar
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Sich öffnet eine freie Stätte.
 
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Der Himmel war so dunkelblau,
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Die Sonne war so voll und glühend,
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Und eines Münsters stolzer Bau
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Stand in dem goldnen Lichte blühend.
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Mir dünkten helle Wolken ihn
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Gleich Fittichen emporzuheben,
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Und seines Turmes Spitze schien
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Im selgen Himmel zu verschweben.
 
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Der Glocke wonnevoller Klang
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Ertönte schütternd in dem Turme;
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Doch zog nicht Menschenhand den Strang:
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Sie ward bewegt von heilgem Sturme.
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Mir war's, derselbe Sturm und Strom
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Hätt an mein klopfend Herz geschlagen:
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So trat ich in den hohen Dom
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Mit schwankem Schritt und freudgem Zagen.
 
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Wie mir in jenen Hallen war,
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Das kann ich nicht mit Worten schildern.
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Die Fenster glühten dunkelklar
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Mit aller Märt'rer frommen Bildern;
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Dann sah ich, wundersam erhellt,
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Das Bild zum Leben sich erweitern,
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Ich sah hinaus in eine Welt
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Von heilgen Frauen, Gottesstreitern.
 
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Ich kniete nieder am Altar,
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Von Lieb und Andacht ganz durchstrahlet.
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Hoch oben an der Decke war
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Des Himmels Glorie gemalet;
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Doch als ich wieder sah empor,
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Da war gesprengt der Kuppel Bogen:
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Geöffnet war des Himmels Tor
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Und jede Hülle weggezogen.
 
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Was ich für Herrlichkeit geschaut
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Mit still anbetendem Erstaunen,
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Was ich gehört für selgen Laut
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Als Orgel mehr und als Posaunen:
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Das steht nicht in der Worte Macht,
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Doch wer danach sich treulich sehnet,
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Der nehme des Geläutes Acht,
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Das in dem Walde dumpf ertönet!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.2 KB)

Details zum Gedicht „Die verlorene Kirche“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
64
Anzahl Wörter
356
Entstehungsjahr
1787 - 1862
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die verlorene Kirche“ wurde von Ludwig Uhland verfasst, einem deutschen Dichter, der von 1787 bis 1862 gelebt hat. Uhland gehörte zur Romantik, einer Epoche, die grob zwischen 1795 und 1848 einzuordnen ist.

Beim ersten Lesen erhält man einen Eindruck von Mystik und Spiritualität. Das Gedicht erzählt die fiktive Geschichte einer verlorenen Kirche, deren Läuten man im Wald hören kann, aber niemand kennt ihren Standort. Das lyrische Ich unternimmt eine Reise durch den Wald, wird vom Glockenschlag ergriffen und gelangt schließlich zur verborgenen Kirche. Diese Erfahrung führt zu einer tiefgreifenden spirituellen Erweckung, die in Bildern göttlicher Präsenz, sakraler Kunst und himmlischer Musik dargestellt wird.

Inhaltlich schildert das Gedicht eine Spiritualität, die sich nicht auf Dogma oder Organisationsstrukturen stützt, sondern auf individuelle und direkte Erfahrungen mit dem Göttlichen. Das lyrische Ich stellt fest, dass die wahre Macht der Kirche nicht in ihrer materiellen Präsenz liegt, sondern in ihrer metaphysischen Präsenz – in Form des mystischen Glockenschlags, der in der Stille des Waldes zu hören ist.

Formal besteht das Gedicht aus acht Strophen zu je acht Versen. Die Sprache des Gedichts ist archaisierend und formal, was die tiefe Verehrung und Ehrfurcht des lyrischen Ichs vor dem Göttlichen unterstreicht. Es mischt Realität und Fantasie, Rationalität und Gefühl, greifbare und metaphysische Erfahrungen. Das Gedicht thematisiert zudem die Grenzen der menschlichen Sprache, wenn es darum geht, mystische Erfahrungen in Worte zu fassen.

Insgesamt schafft Uhland in „Die verlorene Kirche“ eine Atmosphäre des Geheimnisses und des Erhabenen, die den Leser nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern ihn auch dazu einlädt, jenseits der Worte selbst nach ähnlichen spirituellen Erfahrungen zu suchen oder sich zumindest ein Bewusstsein dafür zu schaffen.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die verlorene Kirche“ ist Ludwig Uhland. Uhland wurde im Jahr 1787 in Tübingen geboren. In der Zeit von 1803 bis 1862 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Romantik zuordnen. Bei Uhland handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Der Romantik vorausgegangen waren die Epochen der Weimarer Klassik und der Aufklärung. Die Literaturepoche der Romantik ist zeitlich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein einzuordnen. Besonders auf den Gebieten der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik hatte diese Epoche Auswirkungen. Die Literatur der Romantik (ca. 1795–1848) lässt sich in Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848) aufgliedern. Die Romantik entstand in Folge politischer Krisen und gesellschaftlicher Umbrüche. In ganz Europa fand ein Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft statt. Gleichzeitig bildete sich ein bürgerliches Selbstbewusstsein heraus. Technologischer Fortschritt und Industrialisierung sind prägend für diese Zeit. Die zentralen Motive der Literatur der Romantik sind das Schaurige, Unterbewusste, Fantastische, Leidenschaftliche, Individuelle, Gefühlvolle und Abenteuerliche, welche die Grenzen des Verstandes sprengen und erweitern sollen und sich gegen das bloße Nützlichkeitsdenken sowie die Industrialisierung richten. Die Romantiker sehnen sich nach der Einheit von Natur und Geist. Ein Hinwenden zum Mittelalter ist erkennbar. So werden Kunst und Architektur dieser vergangenen Zeit geschätzt. Die Missstände dieser Zeit bleiben jedoch unerwähnt. Die Stilepoche kennzeichnet sich vor allem durch offene Formen in Gedichten und Texten. Phantasie ist für die Schriftsteller der Romantik das Maß aller Dinge. Die Trennung zwischen Wissenschaft und Poesie, zwischen Wirklichkeit und Traum soll durchbrochen werden. Die Romantiker streben eine Verschmelzung von Kunst und Literatur an. Ihr Ziel ist es letztlich, alle Lebensbereiche zu poetisieren.

Das vorliegende Gedicht umfasst 356 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 64 Versen. Der Dichter Ludwig Uhland ist auch der Autor für Gedichte wie „Waldlied“, „Trinklied“ und „Die Ulme zu Hirsau“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die verlorene Kirche“ weitere 57 Gedichte vor.

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