Ein Augenblick von Friedrich Theodor Vischer

Um die alte Stadt auf der Promenade,
Dem bequemen, beliebten Pfade,
Den die Platanen beschatten und zieren,
Ging ich am Sommerabend spazieren.
Ein Sonntag war's und ein Sonnentag,
Es wandelten Leute von allerhand Schlag,
Festlich geputzt, und alle dem Volke
Stand auf dem Gesicht keine einzige Wolke.
 
Da kam mir im goldenen Abendschein
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Entgegen ein Kinderwägelein,
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Ein nett geflochtnes, auf leichten Rädchen,
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Es zog ein saubres Ulmermädchen.
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Mein Blick fiel just ins Gefährt hinein,
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Da lag ein Knabe gebettet fein,
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Kaum jährig etwa; sein Angesicht
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Umwob ein Schimmer von Rosenlicht,
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Als ruht' er in einem Rosenhag,
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Denn in den Schatten, worin er lag,
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Fiel erhellend ein Widerschein
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Vom farbigen Obdach im Wägelein;
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Auch kam von außen der Glanz ergossen,
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Denn ganz mit Licht war die Luft durchschossen;
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Ja, vom Kind auch schien es mir auszugehen,
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Denn ein schöneres hab' ich noch nie gesehen;
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Man glaubte Herz und Auge zu laben
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An einem von Raffaels Engelknaben,
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Es schwamm wie ein Bild im erleuchteten Raum,
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Wie ein Feenkind, wie ein seltener Traum.
 
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Stillbeglückt sah es vor sich hinaus
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In seinem fahrenden kleinen Haus,
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In seiner Welt ein kleiner König,
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Lächelte auch dazu ein wenig,
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Als schwebten ihm an der Zukunft Tor
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Schon die allerhand lustigen Streiche vor,
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Die man verübt in den Tagen der Jugend,
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Welche ? man weiß ja ? nicht hat viel Tugend;
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Er schaute so hell aus den dunkeln Augen,
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Als möcht' er nicht immer gar zu viel taugen.
 
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Ich sah ihn an, ich blinzte und nickte
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Schmunzelnd. Der reizende Knabe blickte
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Mich an und blinzte, schmunzelte, nickte.
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Gelt du, es ist eben gar was Gutes
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Ums Existieren, schmecken tut es?
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Und ein bißl Spitzbüberei
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Ist eben immer auch dabei?
 
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Er hat es mir richtig im Auge gelesen,
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Der Schelm, das kleine, kaum ahnende Wesen,
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Er hat es verstanden und hat es bejaht,
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Der liebliche Lebenskanditat.
 
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Ich hätt' ihn mögen vor lauter Entzücken
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Aus den Polstern heben, verküssen, verdrücken,
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Doch ich sagte mir: laß es lieber gehen,
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Es soll so bleiben, wie es geschehen,
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Es soll bleiben ein Augenblick.
 
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Fürbaß ging ich, sah nicht zurück.
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Ein alter Bekannter begegnete mir,
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Er stellte mich, fragte: ?Was ist's mit dir?
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Es strahlt ja ordentlich dein Gesicht,
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So heiter sah ich dich lange nicht;
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Wart', ich merk's schon, du kommst vom Wein!
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Ein guter muß es gewesen sein!"
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?Ja," sagt' ich, ?Er war nicht eben schlecht,
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Noch Most, aber Ausstich, feurig und echt."
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.3 KB)

Details zum Gedicht „Ein Augenblick“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
63
Anzahl Wörter
399
Entstehungsjahr
1807 - 1887
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Ein Augenblick“ stammt vom Autor Friedrich Theodor Vischer, der im 19. Jahrhundert lebte.

Das Gedicht vermittelt sofort eine ruhige, fröhliche Atmosphäre. Der Autor beschreibt einen Sommerspaziergang, bei dem der Sprecher eine Vielzahl glücklicher Menschen beobachtet. Besonders fällt ihm dabei ein kleiner Junge in seinem Kinderwagen auf, der von einem Mädchen durch die Straßen gezogen wird. Der Junge wird als besonders hübsch und leuchtend beschrieben, und scheint in seiner Kindheit sehr glücklich und zufrieden zu sein. Zwischen dem Sprecher und dem Jungen entsteht ein kurzes, spielerisches Interaktion, bei dem sie sich gegenseitig anblicken und lächeln. Diese Begegnung macht den Sprecher sehr glücklich, aber er entscheidet, den Moment nicht zu verlängern und geht weiter.

Das lyrische Ich möchte die Schönheit und Freude dieses kurzen Moments festhalten, der einen tiefen Eindruck auf ihn hinterlassen hat. Es ist ein Loblied auf das Leben und die Jugend. Der Dichter sieht in dem Jungen ein Sinnbild für das Leben und erfreut sich an dessen Unschuld und Freude.

Formal besteht das Gedicht aus sieben unterschiedlich langen Strophen mit einfacher Sprache und klarer Struktur. Es wird in der ersten Person erzählt und weist einen alltäglichen Rahmen auf, innerhalb dessen sich die beschriebene Begegnung abspielt. Die Sprache lässt dabei ein lebendiges Bild entstehen. Der Dichter verwendet eine Mischung aus alltäglichen und poetischen Begriffen und schafft so eine harmonische Einheit aus Wirklichkeit und Idealisierung.

Insgesamt lässt sich „Ein Augenblick“ als ein Gedicht interpretieren, das die Schönheit kleiner Momente und Begegnungen betont und eindeutig die Lebensfreude und Leichtigkeit des Kindes hervorhebt. Der kurze, flüchtige Moment wird weit über seine tatsächliche Dauer hinaus durch die Worte des Dichters festgehalten und erhält so eine übergeordnete Bedeutung. Es zeigt uns, wie ein einziger Augenblick uns nachhaltig beeindrucken und unser Gemüt erhellen kann.

Weitere Informationen

Friedrich Theodor Vischer ist der Autor des Gedichtes „Ein Augenblick“. Im Jahr 1807 wurde Vischer in Ludwigsburg geboren. In der Zeit von 1823 bis 1887 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus oder Naturalismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das Gedicht besteht aus 63 Versen mit insgesamt 7 Strophen und umfasst dabei 399 Worte. Der Dichter Friedrich Theodor Vischer ist auch der Autor für Gedichte wie „Gesellschaft“ und „Breite und Tiefe“. Zum Autor des Gedichtes „Ein Augenblick“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

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