Gesellschaft von Friedrich Theodor Vischer

An einem Tische ganz allein
Saß ich im Wirtshaus bei meinem Wein.
In der Nebenstube war's nicht so leer,
Laut und lustig ging es da her.
Es schienen Männer in jüngeren Jahren,
Die wohl alle doch scheu erfahren,
Was Leben heißt im Philistergleis,
Und die sich verbunden zu fröhlichem Kreis,
Verschwundene Tage sich zu erneuern,
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Der schönen Burschenzeit sich zu erfreuen.
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Sie sangen die alten Studentenlieder –
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Nach manchen Jahren hört' ich sie wieder –
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Trinklieder, heiße, durstige,
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Rauschige, tolle, hanswurstige,
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Aber auch ernste, festlich hohe,
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Lieder von heiliger Glut und Lohe,
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Wie sie erbrausten mit Sturmeskraft
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Einst in der Halle der Burschenschaft.
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Seltsam, als wäre mir's angetan,
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Kam mich ein junges Gelüsten an,
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Zu den muntern Zechern hineinzudringen
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Und ohne viel Vorwort mitzusingen;
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Doch schien es mir ein zu kecker Schritt,
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Ich ließ es und summte nur leise mit.
 
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Auf einmal war ich nicht mehr allein,
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Auch nicht zu zweien und nicht zu drei'n.
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Mein Tisch war voll,
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Besetzt bis zum letzten Zoll.
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Wohlbekannte junge Gesichter
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Lachten mich an beim Schein der Lichter,
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Augen blitzten, Wangen glühten,
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Stirnen glänzten, Lippen blühten,
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Locken wallten,
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Rufe schallten,
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Gefülltes Trinkhorn machte die Runde,
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Scherze flogen von Mund zu Munde,
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Und begann dort drinnen ein neuer Sang,
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So begann er auch hier, und mit hellerem Klang,
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Ja, es schien, als bleibe der andre Chor
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Zurück und der unsrige singe vor.
 
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Jetzt wurde das Lied noch angestimmt
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Vom bemoosten Burschen, der Abschied nimmt,
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Dem die Brüder noch geben das Geleit,
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Da zu Ende der Jugend goldne Zeit;
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Hat's mancher mit nassen Augen gesungen,
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Wenn es im trauten Kreis erklungen.
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Weicher und weicher klang die Weise,
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Und von den Lippen nur noch leise
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Flossen die Worte am Liedesschluß:
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?Das letzte Glas, den letzten Kuß!
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Ade, ade, ade!
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Ja, Scheiden und Meiden tut weh!!"
 
53 
Nun ward's still im Nebengemach,
54 
Es verstummte der Lieder rauschender Bach.
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Die Lichter drinnen löschte man aus,
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Die Nachbarn Zecher gingen nach Haus.
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Und wie es so still geworden war,
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Verlor sich auch meiner Gesellen Schar.
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Es war Mitternacht. Sie schwanden dahin,
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Wie Nebelgebilde sich verziehn,
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Wie ein Wölkchen verschwimmt im Mondenschein,
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Und am Tische saß ich wieder allein.
 
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Da brach ich auf und ging gelassen
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Langsam heim durch die stillen Gassen
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Und nannte mir zählend so im Gehen
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Die Namen der Brüder, die ich gesehen,
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Der guten Kameraden,
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Die der Gesang zu mir geladen,
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Der braven, der heitern, so frisch und rot –
70 
Lebt keiner mehr, sind alle tot.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.5 KB)

Details zum Gedicht „Gesellschaft“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
70
Anzahl Wörter
408
Entstehungsjahr
1807 - 1887
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Gesellschaft“ wurde von Friedrich Theodor Vischer (30. Juni 1807 - 14. September 1887) verfasst. Die zeitliche Einordnung erfolgt daher in das 19. Jahrhundert, in das Zeitalter des Biedermeier und der Romantik.

Beim ersten Lesen fällt auf, dass dieses Gedicht von Melancholie und Nostalgie geprägt ist. Es spielt in einer Gaststätte, in der das lyrische Ich alleine an einem Tisch sitzt und dabei auf eine andere Gruppe betrachtet, die ausgelassen feiert und alte Studentenlieder singt. Es scheint, als würde das lyrische Ich dabei in Erinnerungen an seine eigene Jugendzeit schwelgen.

Inhaltlich handelt das Gedicht von der reflektierenden Beobachtung dieser jungen, fröhlichen Gesellschaft. Das lyrische Ich gibt zu, sich nach diesen alten Zeiten zu sehnen und selbst den Drang zu verspüren, sich diesen Männern anzuschließen und mit ihnen zu singen. Allerdings entscheidet es sich dagegen und summt die Lieder nur leise mit. Trotz dieser Distanz schafft sich das lyrische Ich eine positive Illusion, in der es so tut, als ob es inmitten dieser Gemeinschaft sitzen und singen würde. Doch diese Illusion zerbricht mit dem Abschiedslied und der Tatsache, dass die Gruppe nach Hause geht und das lyrische Ich wieder alleine zurückbleibt. Auf dem Nachhauseweg nimmt sich das lyrische Ich Zeit, um an die vergangene Freunde, die alle bereits verstorben sind, zu denken.

Das Gedicht ist im Allgemeinen im klassischen Reim geschrieben, mit einer klaren Struktur und Rhythmus. Die Sprache ist relativ einfach und direkter Natur, doch mit einer betonten emotionalen Wirkung. Es ist deutlich, dass es von einem gealterten Mann und aus einer vergangenen Zeit geschrieben wurde. Vischer nutzt dabei die Wirtshaus-Szene und die Studentenlieder als Metapher, um die nostalgische Sehnsucht und melancholische Stimmung auszudrücken.

Im Allgemeinen ist dieses Gedicht ein Einblick in den emotionalen Zustand von Menschen in ihrem Alter, die sich an ihre junge und fröhliche Zeit erinnern. Es zeigt die Kluft zwischen den Generationen, zwischen der Jugend und dem Alter, und betont die Vergänglichkeit des Lebens und die unausweichliche Konfrontation mit dem Tod.

Weitere Informationen

Friedrich Theodor Vischer ist der Autor des Gedichtes „Gesellschaft“. Im Jahr 1807 wurde Vischer in Ludwigsburg geboren. In der Zeit von 1823 bis 1887 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus oder Naturalismus zugeordnet werden. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das Gedicht besteht aus 70 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 408 Worte. Friedrich Theodor Vischer ist auch der Autor für Gedichte wie „Kahnfahrt“, „Bald“ und „Nur Traum“. Zum Autor des Gedichtes „Gesellschaft“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

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