Der Seelchenbaum von Ferdinand Ernst Albert Avenarius

Weit draußen, einsam im öden Raum
Steht ein uralter Weidenbaum
Noch aus den Heidenzeiten wohl,
Beknorrt und verrunzelt, gespalten und hohl.
Keiner schneidet ihn, keiner wagt
Vorüberzugehn, wenn's nicht mehr tagt;
Kein Vogel singt ihm im dürren Geäst,
Raschelnd nur spukt drin der Ost und West;
Doch wenn am Abend die Schatten düstern,
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Hörst du's wie Sumsen darin und Flüstern.
 
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Und nahst du der Weide um Mitternacht,
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Du siehst sie von grauen Kindlein bewacht:
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Auf allen Ästen hocken sie dicht,
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Lispeln und wispeln und rühren sich nicht.
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Das sind die Seelchen, die weit und breit
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Sterben gemußt, eh die Tauf sie geweiht:
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Im Särglein liegt die kleine Leich,
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Nicht darf das Seelchen ins Himmelreich.
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Und immer neue - siehst es du?
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In leisem Fluge huschen dazu.
 
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Da sitzen sie nun das ganze Jahr
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Wie eine verschlafene Käuzchenschar.
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Doch Weihnachts, wenn der Schnee rings liegt
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Und über die Länder das Christkind fliegt,
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Dann regt sich's, pludert sich's, plaudert, lacht,
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Ei, sind unsre Käuzlein da aufgewacht!
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Sie lugen aus, wer sieht was, wer?
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Ja freilich kommt das Christkind her!
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Mit seinem helllichten Himmelschein
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Fliegt's mitten zwischen sie hinein:
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?Ihr kleines Volk, nun bin ich da
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Glaubt ihr an mich?" Sie rufen: ?Ja!"
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Da nickt's mit seinem lieben Gesicht
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Und herzt die Armen und ziert sich nicht.
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Dann klatscht's in die Hände, schlingt den Arm
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Ihm nach und hoch ob Wald und Wies'
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Ganz graden Weges ins Paradies.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.7 KB)

Details zum Gedicht „Der Seelchenbaum“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
37
Anzahl Wörter
235
Entstehungsjahr
1856 - 1923
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das hier analysierte Gedicht trägt den Titel „Der Seelchenbaum“ und stammt von Ferdinand Ernst Albert Avenarius. Wegen seiner Lebensdaten, von 1856 bis 1923, kann man das Werk in die Epoche des Realismus einordnen.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht etwas düster und mysteriös. Es handelt von einem alten, einsamen Weidenbaum, in dem Geister kleiner Kinder, die gestorben sind, bevor sie getauft werden konnten, ihre Heimat finden. Der Baum wird als verlassen und unheimlich charakterisiert, doch zugleich ist er ein Ort des Trostes für diese 'Seelchen', die aufgrund des damaligen Glaubens keinen Zugang zum Himmel haben.

Die Erzählweise des lyrischen Ichs ist schlicht und anschaulich, was den Eindruck einer Volksballade oder Sage erweckt. Das Gedicht hat keinen festen Reimschema und ist in freien Versen verfasst, was zur allgemeinen Atmosphäre des Unheimlichen und Mysteriösen beiträgt.

Die Sprache des Gedichtes ist zugleich bildreich und stark emotional. Sie setzt auf anschauliche Beschreibungen („Beknorrt und verrunzelt, gespalten und hohl“), um die Stimmung zu verdichten und den Baum als eine Art Charakter darzustellen. Der Baum wird personifiziert, was ihn lebendiger und greifbarer erscheinen lässt.

Durch die Verwendung von direkter Rede im dritten Teil des Gedichtes, wo das Christkind mit den Seelchen spricht, wird ein Gefühl der Nähe und Intimität erzeugt. Dadurch wird der Baum zu einem Ort der Hoffnung und des Trostes, anstatt nur als unheimlicher Ort dargestellt zu sein.

Der starke emotive Charakter der Sprache des Gedichtes dient dazu, Sympathie und Mitgefühl für das Schicksal der Seelchen zu erwecken. Auch durch die Darstellung des Christkinds als liebevolle und gütige Figur wird eine positive, tröstende Botschaft vermittelt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Der Seelchenbaum“ von Ferdinand Avenarius ein dichtes und emotional aufgeladenes Gedicht ist, das mit bildreicher Sprache und starken Emotionen ein Bild von Trost und Hoffnung inmitten der Dunkelheit zeichnet.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der Seelchenbaum“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Ferdinand Ernst Albert Avenarius. Geboren wurde Avenarius im Jahr 1856 in Berlin. Im Zeitraum zwischen 1872 und 1923 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Realismus, Naturalismus, Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit zuordnen. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das vorliegende Gedicht umfasst 235 Wörter. Es baut sich aus 3 Strophen auf und besteht aus 37 Versen. Weitere Werke des Dichters Ferdinand Ernst Albert Avenarius sind „Kornrauschen“ und „Vogelmette“. Zum Autor des Gedichtes „Der Seelchenbaum“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

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