Den Zaudernden von Amalie von Helvig
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Im Winde treibt der Vogel hin und wieder, |
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Der Schwalbe Nest reißt vom Gebälk der Sturm; |
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Hoch über Menschen stürzt der Berg sich nieder, |
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Und in der Erde Schooß ertrinkt der Wurm. |
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Dort sinken Hütten, wild vom Schwall ergriffen. |
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Hier fällt, beschwert mit goldner Frucht der Baum, |
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Der Straßen Bahn sieht man den Kahn durchschiffen |
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Und krachend reißt der Elemente Zaum |
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Wer mag dies Toben der Natur uns deuten, |
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Wie es in Angst des Jahres Lust verkehrt? – |
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So, bebt der alten Erde Grund, wird Läuten |
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Von allen Thürmen mahnend auch gehört. |
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Wenn Schiffbruch sich auf fernem Meer ereignet, |
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Hallt banger Nothschuß dumpf zum sichern Strand |
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Und hoch mit ahnungsvollen Gluthen zeichnet |
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Die Flamme grausend sich am Himmelsrand. |
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Das Feuer schreckt euch, arme, zage Seelen! – |
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Doch vor dem Nothruf stopft ihr feig das Ohr. |
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Und höhnend steigt aus wilden Türkenkehlen |
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Auf Christen-Leichen Mordgebrüll empor. |
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Ihr aber stöhnt, mit frömmelnder Geberde, |
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Gefalt’ne Händ’ im Schooß, ein mystisch Lied; |
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Indeß von jener blutgetränkten Erde |
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Der letzte Hoffnungs-Engel weinend flieht. |
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Wie? – war’s ein Mährchen denn, daß fromme Liebe |
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Auf’s neu erwacht mit treuer Christenpflicht? – |
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Und weckten jenes Drängers Geißelhiebe |
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Euch nur zur Nothwehr, doch zum Mitleid nicht? – |
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Riß Jener unsre Tempel frevelnd nieder? – |
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Würgt’ er die Diener Gottes am Altar? – |
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Und heil’gen Haß doch nannten kühne Lieder |
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Des Volkes Zorn – der Freiheit ihm gebar. |
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Und diesen Kampf für Glauben, Heerd und Ehre |
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Könnt ihr mit müß’gem Achselzucken seh’n? – |
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Ließ des Vergangnen schwer gewicht’ge Lehre |
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Euch nicht der Zeiten ernsten Sinn verstehn? – |
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Daß Jeder sein gemeß’nes Theil behalte, |
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Im längst verletzt – erträumten Gleichgewicht – |
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Daß fürder herrisch jedes Meerreich walte, |
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Beachtet klug ihr, traun! – doch weise nicht. |
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Unseel’ge Staatskunst, die am Weltreich schnitzelt! |
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Nichts möglich haltend, was sie nicht erlebt. – |
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Im Dünkel blind auf Wachs Gesetze kritzelt, |
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Wenn Noth das ihr in eh’rne Tafeln gräbt. |
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Wer mag den Schritt des Geistes rückwärts drängen, |
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In Schlaf ihn wiegen wer – wenn er erwacht? – |
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Der, gleich dem Strom, den morsche Dämm’ umengen, |
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Hochschwellend, furchtbar neue Bahn sich macht. |
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O hört sie nicht, die selbst in goldnen Ketten |
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So kühl der Völker ehrne Bande sehn! – |
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Eilt Fürsten, eures Namens Ruhm zu retten! – |
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Denn ihr lebt fort, wenn Jen’ in Straub vergehn. |
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Des Heucheleifers Knechtes-Flüstern schrecke |
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Euch mehr als grader Rede lauter Ton, |
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Denn fester nicht steht hoch des Himmels Decke, |
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Als, ruhend auf Gesetz und Recht, der Thron. |
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Drum hütet euch, der Völker frommen Glauben: |
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Zu Richtern habe hier euch Gott bestellt – |
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Durch falscher Wage Schwanken selbst zu rauben, |
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Wo Aller Wunsch in eine Schale fällt. |
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Ihr ging’t voran mit hoher Andacht Flamme |
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Auf’s neu zu weihen Thron dort und Altar – |
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Und – Heiden würgen, wo vom Kreuzes Stamme |
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Des Glaubens frühster Strahl gedrungen war? – |
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Weh. weh dem Zaudern! – wie in Blut ertranken |
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Des Lenzes Blumen, fault die goldne Saat |
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Geknickt vom Roßhuf; falb am Boden ranken |
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Die Reben traublos, wo kein Winzer naht. |
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Mord heißt die Frucht, die dieses Jahr geboren, |
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Von Tausenden belegt mit finsterm Fluch. |
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Ach, hüllt’ es bald, was jeder hat verloren |
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Mitleidig in ein großes Leichentuch! – |
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O wie so tief und rührend einverstanden |
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Bleibst du Natur, mit jedem wahren Schmerz! |
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Du weinst mit uns, und weit in allen Landen |
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Versteht dein Trauern, trauernd selbst, das Herz. |
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Geuß Himmel denn die mächtgen Ströme nieder! |
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So fällt des Jammers Thrän’ auf öden Sand. – |
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Doch eine Hand greift durch die Wolken wieder |
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Und schreibt das Urtheil flammend an die Wand. |
Details zum Gedicht „Den Zaudernden“
Amalie von Helvig
10
80
573
1821
Klassik,
Romantik,
Biedermeier
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Den Zaudernden“ wurde von der deutschen Dichterin Amalie von Helvig verfasst, die in der Zeit von 1776 bis 1831 lebte. Damit lässt es sich zeitlich der Epoche der Romantik zuordnen.
Der erste Eindruck des Gedichts ist von einer düsteren, fast apokalyptischen Stimmung geprägt. Es zeichnet ein Bild von Naturkatastrophen und Chaos und scheint gleichzeitig eine Warnung und ein Appell an den Leser zu sein. Die Strophen sind reich an dramatischen und bildhaften Beschreibungen, die eine intensive Atmosphäre erzeugen.
Im Inhalt des Gedichts wird von verschiedenen Umständen beschrieben, welche die Ordnung der Natur zerstören. Dies wird als Metapher dafür genutzt, den politischen und religiösen Zustand zur Zeit der Autorin darzustellen. Es scheint, dass das lyrische Ich von der Passivität und dem Zaudern der Menschen genervt ist, die den Vorherrschaftsanspruch des Orients auf den Westen akzeptieren, statt sich zu wehren. In mehreren Strophen prangert das lyrische Ich diese feige Haltung an und appelliert an die Menschen, ihren Teil für die Verteidigung von Glaube, Heimat und Ehre zu tun.
Das Gedicht hat eine durchgängige Form aus achtversigen Strophen. Die verwendete Sprache ist nüchtern und teilweise komplex, sie erfordert also ein hohes Sprachverständnis, um das Gedicht vollständig zu begreifen. Allerdings wird durch den Einsatz von Metaphern und Gleichnissen der Inhalt für den Leser greifbarer gemacht und bildlicher dargestellt.
Im Großen und Ganzen ist dieses Gedicht eine eindringliche Kritik an den gesellschaftlichen Umständen zur Zeit der Autorin und eine Aufforderung zum Handeln. Es zeigt, dass Poesie nicht immer nur schön und harmonisch sein muss, sondern auch als Instrument zur Gesellschaftskritik verwendet werden kann. Es stellt somit ein gutes Beispiel für das politische Engagement vieler Autoren in der Romantik dar.
Weitere Informationen
Die Autorin des Gedichtes „Den Zaudernden“ ist Amalie von Helvig. Die Autorin Amalie von Helvig wurde 1776 in Weimar geboren. Im Jahr 1821 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin kann der Text den Epochen Klassik, Romantik oder Biedermeier zugeordnet werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 573 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 80 Versen mit insgesamt 10 Strophen. Amalie von Helvig ist auch die Autorin für das Gedicht „An Deutschlands Frauen“, „Weihe an Hellas“ und „Zuruf an Griechenland“. Zur Autorin des Gedichtes „Den Zaudernden“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.
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