Den Schminktopf weg! von Marie Eugenie Delle Grazie

„Den Schminknapf weg! mit Rosen und Narzissen
Bestreut das Lager mir – es dufte schwül,
Wenn er, von meinem Arm hinabgerissen,
Begehrend lechzt auf heißem Purpurpfühl!
Laßt Weihrauchduft im Schlafgemache steigen,
Im Peristyle sprengt Falerner aus
Und dann – ihr wißt es: athemloses Schweigen –
Kein Laut – bei meinem Zorn! im ganzen Haus!“
 
Sie ruft’s, mit stolzen, königlichen Schritten
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Hinwandelnd durch das dämmernde Gemach;
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Leis’ knirscht der Marmor unter ihren Tritten
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Und knisternd rauscht des Kleides Saum ihr nach....
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„O Herrin – es geschah, wie du befohlen!“
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Mit scheuer Lippe haucht’s ihr Lieblingssklav’
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Und schleicht dann tief gebückt, auf leisen Sohlen
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Hinaus – gehorsam, lautlos wie der Schlaf.
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Sie nickt und wandelt rascher auf und nieder:
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Ihr Busen wogt, das zarte Antlitz flammt –
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Wie kosig schmiegt sich an die weichen Glieder
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Des Hemdes Byssus und der Stola Sammt!
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Nun hält sie ein – mit silbernem Geflimmer
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Wirft eines Spiegels blank-polirtes Rund
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Ihr Bild zurück: der Augen blauen Schimmer,
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Die marmorglatte Stirn, den süßen Mund,
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Den lichten Goldglanz ihrer blonden Flechten –
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Einst trug sie ein germanisch Fürstenkind,
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Nun streicht sie mit der lilienblassen Rechten
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Die Römerin; sie denkt’s und lächelt: spinnt
 
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Der Zufall doch gleich wirr an den Geschicken
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Der Menschen, launisch oder gnadenvoll –
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Und wieder flammt es auf in ihren Blicken –
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Die Schöne weiß warum und lacht wie toll
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Dem eig’nen Bild zu....
 
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Ja, heut’ wird er kommen,
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Er, dessen Nam’ sonst wie Entsetzen lähmt,
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Der Bluthund, der Tyrann, der lustentglommen
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Zu ihren Füßen liegt, von ihr gezähmt –
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Rom’s Dämon, Nero! Ha, nur noch Minuten,
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Und sie umfängt mit ihrem Sieg ihr Glück,
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Ergötzt sich straflos an des Wüth’richs Gluthen –
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Mit keinem Nerv bebt sie vor ihm zurück!
 
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„Ja ich, Poppäa bin’s, die ihn bezwungen!“
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Und wieder lacht sie auf – „ich hab ihm dreist
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Um’s Löwenhaupt den seidnen Strick geschlungen,
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Ich tändle mit der Pranke, die zerreißt
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Und hinwürgt, keck und ohne Todesgrauen,
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Zum Spielzeug ward er mir, der Wütherich,
48 
Ich hab’s gewagt ihm stolz in’s Aug zu schauen –
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Rom’s letzter, einz’ger Held – drum liebt er mich!“
 
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Sie ruft’s und steht in des Gemaches Mitte
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Hochaufgerichtet, Siegerin und Weib
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Zugleich – da nahen leichte Pantherschritte –
53 
Ein süßer Schauer rinnt durch ihren Leib....
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Den Schminktopf weg!“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
53
Anzahl Wörter
368
Entstehungsjahr
1892
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

'Den Schminktopf weg!' ist ein Gedicht der österreichischen Schriftstellerin Marie Eugenie Delle Grazie, geboren 1864 und gestorben 1931. Es stammt somit aus der Epoche des Fin de Siècle oder auch Jugendstil genannt, welche durch eine neue Ästhetik und den Bewusstseinswandel der Gesellschaft gekennzeichnet ist.

Beim ersten Eindruck wirkt das Gedicht gestisch, bildreich und ausgefeilt in seiner Dramaturgie. Man könnte es als eine Szenenfolge betrachten, die in starken, ausdrucksvollen Bildern eine Geschichte erzählt.

Das lyrische Ich des Gedichts ist eine Frau, offenbar eine mächtige und stolze römische Herrscherin, Poppäa. Sie bereitet sich auf den Besuch eines mächtigen Mannes vor, dessen Identität ihr Gefallen und ihr Unbehagen gleichermaßen hervorruft - es handelt sich um den römischen Kaiser Nero. Das lyrische Ich präsentiert sich als selbstbewusste, fast arrogante Figur, die sich selbst als Siegerin über den berüchtigten Tyrann Nero sieht. Sie beschreibt, wie sie ihn - gewöhnlich gefürchtet - zähmt und sogar mit ihm spielt. Die Spannung zwischen Vorfreude und Furcht ist ein zentrales Thema des Gedichts.

Wie es für Poesie typisch ist, arbeitet das Gedicht auf emotionaler Ebene und verwendet stilisierte, bildreiche Sprache, um Stimmungen und Emotionen zu vermitteln. Es ist eindeutig in Verse und Strophen unterteilt, wobei der Versbau freier ist, was typisch für die Poesie des Jugendstil ist. Die Sprache ist opulent und detailliert, mit vielen Adjektiven und Metaphern, die helfen, die Komplexität der Emotionen und der physischen Szene zu vermitteln.

Zusammengefasst ist 'Den Schminktopf weg!' von Marie Eugenie Delle Grazie eine dramatisch inszenierte Szene, die eigene Impressionen in der römischen Antike nutzt, um eine komplexe Mischung aus Vorfreude und Furcht vor einer bevorstehenden Begegnung zwischen einer stolzen Frau und einem mächtigen Tyrannen darzustellen. Die starke Betonung auf Bildern und Emotionen ist charakteristisch für den Stil dieser Epoche. Die poetische Struktur und die detaillierte, sinnliche Sprache tragen zur tieferen Bedeutung des Textes bei.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Den Schminktopf weg!“ stammt aus der Feder der Autorin bzw. Lyrikerin Marie Eugenie Delle Grazie. Im Jahr 1864 wurde Delle Grazie in Weißkirchen (Bela Crkva) geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1892. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zur Epoche Realismus zu. Bei der Schriftstellerin Delle Grazie handelt es sich um eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das 368 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 53 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Die Gedichte „Beatrice Cenci“, „Campo Santo“ und „Capri, Capri, könnt’ ich je vergessen“ sind weitere Werke der Autorin Marie Eugenie Delle Grazie. Zur Autorin des Gedichtes „Den Schminktopf weg!“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 71 Gedichte vor.

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