Bürger, Gottfried August - Lenore (Interpretation Analyse)

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Referat

Marco Blume, Klasse 12/1

Interpretation des Gedichtes „Lenore“ von Gottfried August Bürger

Lenore
von Gottfried August Bürger

Lenore fuhr ums Morgenrot
Empor aus schweren Träumen:
»Bist untreu, Wilhelm, oder tot?
Wie lange willst du säumen?« –
Er war mit König Friedrichs Macht
Gezogen in die Prager Schlacht
Und hatte nicht geschrieben,
Ob er gesund geblieben.
 
Der König und die Kaiserin,
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Des langen Haders müde,
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Erweichten ihren harten Sinn
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Und machten endlich Friede;
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Und jedes Heer, mit Sing und Sang,
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Mit Paukenschlag und Kling und Klang,
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Geschmückt mit grünen Reisern,
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Zog heim nach seinen Häusern.
 
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Und überall, all überall,
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Auf Wegen und auf Stegen,
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Zog Alt und Jung dem Jubelschall
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Der Kommenden entgegen.
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»Gottlob« rief Kind und Gattin laut,
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»Willkommen!« manche frohe Braut;
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Ach! aber für Lenoren
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War Gruß und Kuß verloren.
 
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Sie frug den Zug wohl auf und ab
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Und frug nach allen Namen;
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Doch keiner war, der Kundschaft gab,
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Von allen, so da kamen.
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Als nun das Heer vorüber war,
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Zerraufte sie ihr Rabenhaar
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Und warf sich hin zur Erde
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Mit wütiger Gebärde.
 
33 
Die Mutter lief wohl hin zu ihr:
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»Ach, daß sich Gott erbarme!
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Du liebes Kind! was ist mit dir?«
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Und schloß sie in die Arme. –
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»O Mutter! Mutter! hin ist hin!
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Nun fahre Welt und alles hin!
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Bei Gott ist kein Erbarmen:
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O weh, o weh mir Armen!« –
 
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»Hilf Gott! hilf! Sieh uns gnädig an!
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Kind, bet ein Vaterunser!
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Was Gott tut, das ist wohlgetan,
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Gott, Gott erbarm sich unser!« – .
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»O Mutter! Mutter! eitler Wahn!
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Gott hat an mir nicht wohlgetan!
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Was half, was half mein Beten?
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Nun ists nicht mehr vonnöten.« –
 
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»Hilf Gott! hilf! Wer den Vater kennt,
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Der weiß, er hilft den Kindern.
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Das hochgelobte Sakrament
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Wird deinen Jammer lindern.« –
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»O Mutter! Mutter! was mich brennt,
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Das lindert mir kein Sakrament,
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Kein Sakrament mag Leben
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Den Toten wiedergeben.« –
 
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»Hör, Kind! Wie, wenn der falsche Mann
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Im fernen Ungerlande
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Sich seines Glaubens abgetan
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Zum neuen Ehebande? –
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Laß fahren, Kind, sein Herz dahin!
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Er hat es nimmermehr Gewinn!
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Wann Seel und Leib sich trennen,
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Wird ihn sein Meineid brennen!« –
 
65 
»O Mutter! Mutter! hin ist hin!
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Verloren ist verloren!
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Der Tod, der Tod ist mein Gewinn!
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O wär ich nie geboren! –
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Lisch aus, mein Licht! auf ewig aus!
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Stirb hin! stirb hin! in Nacht und Graus!
71 
Bei Gott ist kein Erbarmen:
72 
O weh, o weh mir Armen!« –
 
73 
»Hilf Gott! hilf! Geh nicht ins Gericht
74 
Mit deinem armen Kinde!
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Sie weiß nicht, was die Zunge spricht;
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Behalt ihr nicht die Sünde! –
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Ach, Kind! vergiß dein irdisch Leid
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Und denk an Gott und Seligkeit,
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So wird doch deiner Seelen
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Der Bräutigam nicht fehlen.« –
 
81 
»O Mutter! was ist Seligkeit?
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O Mutter! was ist Hölle?
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Bei ihm, bei ihm ist Seligkeit,
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Und ohne Wilhelm, Hölle!
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Lisch aus, mein Licht! auf ewig aus!
86 
Stirb hin! stirb hin! in Nacht und Graus!
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Ohn ihn mag ich auf Erden,
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Mag dort nicht selig werden.« –
 
89 
So wütete Verzweifelung
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Ihr in Gehirn und Adern.
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Sie fuhr mit Gottes Vorsehung
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Vermessen fort zu hadern,
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Zerschlug den Busen und zerrang
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Die Hand bis Sonnenuntergang,
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Bis auf am Himmelsbogen
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Die goldnen Sterne zogen.
 
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Und außen, horch, gings trap trap trap,
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Als wie von Rosses Hufen,
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Und klirrend stieg ein Reiter ab
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An des Geländers Stufen.
101 
Und horch! und horch! den Pfortenring
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Ganz lose, leise klinglingling!
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Dann kamen durch die Pforte
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Vernehmlich diese Worte:
 
105 
»Holla! holla! Tu auf, mein Kind!
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Schläfst, Liebchen, oder wachst du?
107 
Wie bist noch gegen mich gesinnt?
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Und weinest oder lachst du?« –
109 
»Ach, Wilhelm! du? – So spät bei Nacht?
110 
Geweinet hab ich und gewacht;
111 
Ach, großes Leid erlitten!
112 
Wo kommst du her geritten?« –
 
113 
»Wir satteln nur um Mitternacht.
114 
Weit ritt ich her von Böhmen;
115 
Ich habe spät mich aufgemacht
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Und will dich mit mir nehmen.« –
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»Ach, Wilhelm, 'rein, herein geschwind!
118 
Den Hagedorn durchsaust der Wind:
119 
Herein, in meinen Armen,
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Herzliebster, zu erwarmen!« –
 
121 
»Laß sausen durch den Hagedorn,
122 
Laß sausen, Kind, laß sausen!
123 
Der Rappe scharrt; es klirrt der Sporn!
124 
Ich darf allhier nicht hausen!
125 
Komm, schürze, spring und schwinge dich
126 
Auf meinen Rappen hinter mich!
127 
Muß heut noch hundert Meilen
128 
Mit dir ins Brautbett eilen.« –
 
129 
»Ach, wolltest hundert Meilen noch
130 
Mich heut ins Brautbett tragen?
131 
Und horch! es brummt die Glocke noch,
132 
Die elf schon angeschlagen.« –
133 
»Herzliebchen! komm! der Mond scheint hell;
134 
Wir und die Toten reiten schnell;
135 
Ich bringe dich, zur Wette,
136 
Noch heut ins Hochzeitsbette.« –
 
137 
»Sag an! wo ist dein Kämmerlein?
138 
Wo? wie dein Hochzeitsbettchen?« –
139 
»Weit, weit von hier! – Still, kühl und klein!
140 
Sechs Bretter und zwei Brettchen!« –
141 
»Hats Raum für mich?« – »Für dich und mich!
142 
Komm, schürze, spring und schwinge dich!
143 
Die Hochzeitsgäste hoffen;
144 
Die Kammer steht uns offen.«
 
145 
Schön Liebchen schürzte, sprang und schwang
146 
Sich auf das Roß behende;
147 
Wohl um den trauten Reiter schlang
148 
Sie ihre Lilienhände;
149 
Und als sie saßen, hopp hopp hopp!
150 
Gings fort im sausenden Galopp,
151 
Daß Roß und Reiter schnoben
152 
Und Kies und Funken stoben.
 
153 
Zur rechten und zur linken Hand,
154 
Vorbei vor ihren Blicken,
155 
Wie flogen Anger, Heid und Land!
156 
Wie donnerten die Brücken!
157 
»Graut Liebchen auch? ...Der Mond scheint hell!
158 
Hurra! Die Toten reiten schnell!
159 
Graut Liebchen auch vor Toten?« –
160 
»Ach nein! ...doch laß die Toten!« –
 
161 
Was klang dort für Gesang und Klang?
162 
Was flatterten die Raben? ...
163 
Horch Glockenklang! Horch Totensang:
164 
»Laßt uns den Leib begraben!«
165 
Und näher zog ein Leichenzug,
166 
Der Sarg und Totenbahre trug.
167 
Das Lied war zu vergleichen
168 
Dem Unkenruf in Teichen.
 
169 
»Nach Mitternacht begrabt den Leib
170 
Mit Klang und Sang und Klage!
171 
Jetzt führ ich heim mein junges Weib;
172 
Mit, mit zum Brautgelage! ...
173 
Komm, Küster, hier! komm mit dem Chor
174 
Und gurgle mir das Brautlied vor!
175 
Komm, Pfaff, und sprich den Segen,
176 
Eh wir zu Bett uns legen!«
 
177 
Still Klang und Sang. – Die Bahre schwand. –
178 
Gehorsam seinem Rufen
179 
Kams, hurre! hurre! nachgerannt
180 
Hart hinter's Rappen Hufen.
181 
Und immer weiter, hopp! hopp! hopp!
182 
Gings fort im sausenden Galopp,
183 
Daß Roß und Reiter schnoben
184 
Und Kies und Funken stoben.
 
185 
Wie flogen rechts. wie flogen links
186 
Gebirge, Bäum und Hecken!
187 
Wie flogen links und rechts und links
188 
Die Dörfer, Städt und Flecken! –
189 
»Graut Liebchen auch? ...Der Mond scheint hell!
190 
Hurra! Die Toten reiten schnell!
191 
Graut Liebchen auch vor Toten?«
192 
»Ach. laß sie ruhn, die Toten.« –
 
193 
Sieh da! sieh da! Am Hochgericht
194 
Tanzt, um des Rades Spindel,
195 
Halb sichtbarlich. bei Mondenlicht,
196 
Ein luftiges Gesindel.
197 
»Sa! sa! Gesindel! hier! komm hier!
198 
Gesindel, komm und folge mir!
199 
Tanz uns den Hochzeitsreigen,
200 
Wann wir das Bett besteigen!« –
 
201 
Und das Gesindel, husch! husch! husch!
202 
Kam hinten nach geprasselt,
203 
Wie Wirbelwind am Haselbusch
204 
Durch dürre Blätter rasselt.
205 
Und weiter, weiter, hopp! hopp! hopp!
206 
Gings fort im sausenden Galopp,
207 
Daß Roß und Reiter schnoben
208 
Und Kies und Funken stoben.
 
209 
Wie flog, was rund der Mond beschien,
210 
Wie flog es in die Ferne!
211 
Wie flogen oben überhin
212 
Der Himmel und die Sterne! –
213 
»Graut Liebchen auch? ...Der Mond scheint hell!
214 
Hurra! Die Toten reiten schnell! –
215 
Graut Liebchen auch vor Toten?«
216 
»O weh! laß ruhn die Toten!«
 
217 
»Rapp! Rapp! Mich dünkt, der Hahn schon ruft. –
218 
Bald wird der Sand verrinnen. –
219 
Rapp! Rapp! ich wittre Morgenluft –
220 
Rapp! tummle dich von hinnen!-
221 
Vollbracht! vollbracht ist unser Lauf!
222 
Das Hochzeitsbette tut sich auf!
223 
Die Toten reiten schnelle!
224 
Wir sind, wir sind zur Stelle!«
 
225 
Rasch auf ein eisern Gittertor
226 
Gings mit verhängtem Zügel;
227 
Mit schwanker Gert ein Schlag davor
228 
Zersprengte Schloß und Riegel.
229 
Die Flügel flogen klirrend auf,
230 
Und über Gräber ging der Lauf;
231 
Es blinkten Leichensteine
232 
Ringsum im Mondenscheine.
 
233 
Ha sieh! Ha sieh! im Augenblick,
234 
Hu! Hu! ein gräßlich Wunder!
235 
Des Reiters Koller, Stück für Stück,
236 
Fiel ab, wie mürber Zunder.
237 
Zum Schädel ohne Zopf und Schopf,
238 
Zum nackten Schädel ward sein Kopf,
239 
Sein Körper zum Gerippe
240 
Mit Stundenglas und Hippe.
 
241 
Hoch bäumte sich, wild schnob der Rapp
242 
Und sprühte Feuerfunken;
243 
Und hui! wars unter ihr hinab
244 
Verschwunden und versunken.
245 
Geheul! Geheul aus hoher Luft,
246 
Gewinsel kam aus tiefer Gruft;
247 
Lenorens Herz mit Beben
248 
Rang zwischen Tod und Leben.
 
249 
Nun tanzten wohl bei Mondenglanz
250 
Rund um herum im Kreise
251 
Die Geister einen Kettentanz
252 
Und heulten diese Weise:
253 
»Geduld! Geduld! wenns Herz auch bricht!
254 
Mit Gott im Himmel hadre nicht!
255 
Des Leibes bist du ledig;
256 
Gott sei der Seele gnädig!«

(„Lenore“ von Gottfried August Bürger ist auch in unserer Gedichtedatenbank zu finden. Dort findest Du auch weitere Gedichte des Autoren. Für die Analyse des Gedichtes bieten wir ein Arbeitsblatt als PDF (26.7 KB) zur Unterstützung an.)

Gottfried August Bürger war ein berühmter deutscher Dichter der Neuzeit. Er wurde am 31.12.1747 in Molmerswende (Landkreis Mansfelder Land) geboren. 1772 wirkte er als Justizamtmann in Altengleichen bei Göttingen.

Im Jahre 1789 wurde ihm der Professortitel in Göttingen zuteil, bevor er dann in eben jener Stadt am 08.06.1794 starb. Bürger sah als Schriftsteller seine Aufgabe darin die Bildungs -und Volksdichtung, sowie die Kunst –und Naturpoesie zu vereinen. Gottfried August Bürger hat es vor allem durch „Lenore“ (1773) geschafft der deutschen Ballade den Rang hoher Poesie zu verleihen.

Lenore ist eine junge Frau, die zuhause auf die Rückkehr ihres Verlobten wartet, der in die Prager Schlacht gezogen ist. Doch er befindet sich nicht unter den Zurückkehrenden und Lenore ist verzweifelt, was im Ausspruch „Nun fahre Welt und alles hin!“ deutlich wird.

Lenore zeigt in dieser Phase starke Emotionen, was verständlich ist, wenn man um das Schicksal vieler Frauen in der Historie weiß, deren Männer im Krieg gefallen sind. Ihre Mutter versucht sie zu besänftigen und beruft sich auf Gott, der das Schicksal immer in die richtigen Bahnen lenkt. Sie äußert dies auf folgende Weise: “Was Gott tut, das ist wohlgetan.“ Desweiteren spricht sie davon, dass Lenore Trost im heiligen Sakrament finden wird. Deutlich wird hier bereits, dass die Mutter eine sehr religiös-konservative Einstellung hat.

Lenore zeigt sich ungläubig und zweifelt an Gott, seinem Erbarmen und der trostspendenden Funktion der Bibel. Die Mutter deutet daraufhin an, dass Wilhelms ausbleibende Rückkehr auf einen Ehebruch zurückzuführen sein könnte und dass er sie als Frau gar nicht verdient habe. Sie drückt dies folgendermaßen aus: “Im fernen Ungerlande sich seines Glaubens abgetan zum neuen Ehebande? Laß fahren, Kind, sein Herz dahin! Er hat es nimmermehr Gewinn!“

Doch Lenore bleibt sehr betrübt und hat sogar Suizidgedanken, was in der Redewendung

„Der Tod, der Tod ist mein Gewinn!“ verdeutlicht wird.

Sie sieht einfach keinen anderen Ausweg mehr. Sie liebt Wilhelm über alles und kann sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.

Die Mutter beruft sich nun wieder auf Gott und äußert, dass nur er Lenore die wahre Seligkeit bringen könne.

Sie beschwört Gott und sucht Entschuldigungen für ihre Tochter.

In der Nacht dann kommt ein geheimnisvoller Reiter dahergeritten.

Es ist Wilhelm, der „verschollene“ Verlobte der Lenore.

Sein Erscheinen überrascht, aber erfreut Lenore natürlich auch, was in der Redewendung “Herein, in meinen Armen, Herzliebster, zu erwarmen!“ ausgedrückt wird.

Wilhelm äußert, dass er einen weiten Weg von Böhmen zu ihr machen musste und dass er sie nun mitnehmen möchte, um noch vor Mitternacht in seinem Lager anzukommen und mit ihr die Hochzeitsnacht zu verbringen.

Lenore ist sehr glücklich und aufgeregt, was in Fragen wie „Sag an wo ist dein Kämmerlein?“ oder „Hat´ s Raum für mich?“ – „Für dich und mich?“ deutlich wird.

Lenore ist voller Vorfreude und fühlt sich in Wilhelms Nähe geborgen, was man daran erkennen kann, dass sie auf Wilhelms auffallend häufig gestellte Frage „Graut Liebchen vor den Toten?“ immer sicher fühlend die Antwort „Ach! Lass sie ruhen die Toten!“ gibt.

Es wird deutlich, dass der Reiter in Wahrheit nicht Wilhelm sein kann, da sich Andeutungen und Ausrufe, die Bezug auf den Tod nehmen, häufen.

Lenore jedoch bemerkt dies nicht, da sie ihr Heil in Person von Wilhelm gefunden zu haben glaubt. Geschehnisse um sie herum und die angedeuteten Anspielungen auf den Tod nimmt sie nicht wahr. Sie genießt Wilhelms Nähe und es scheint so, als ob sie sich in einer Traumwelt befindet. Schließlich endet der Ritt an einem Friedhof und der vermeintliche Verlobte entpuppt sich als der Tod. Lenores Schicksal ist nun besiegelt, was sich letztendlich auch in der körperlichen Wandlung des Reiters auf grausige Art und Weise offenbart. Die Moritat der Ballade, dass man Gott nicht freveln darf, kommt erst im abschließenden Heulgesang der Geister ganz am Schluss eindeutig zum Ausdruck.

Lenore stellt in der Handlung die tragische Figur dar, da sie aus Liebe zu Wilhelm und vielleicht auch ein bisschen aus Naivität nichts von ihrem bevorstehenden Schicksal bemerkt. Sie vertraut Wilhelm ohne Einschränkung und bekommt somit nicht mit, wer er wirklich ist. Zu Beginn der Handlung führt sie einen heftigen Disput mit ihrer Mutter. Lenore, die anscheinend noch sehr jung ist, sieht nur ihre verlorene Liebe und empfindet demzufolge große Trauer. Sie kann von ihrer Mutter nicht zur Ruhe gebracht werden. Lenore ist von Gott zutiefst enttäuscht und wendet sich vom Glauben ab.

Daraus resultiert auch ihr späteres Schicksal, denn wegen ihrer Ungläubigkeit wurde ihr der Tod zuteil. Lenores Denkweise basiert sicherlich auf Gefühlen und Emotionen. Ihre Glückseligkeit ist so sehr von der Liebe zu Wilhelm abhängig, dass sie es sogar in Erwägung zieht sich bei einer ausbleibenden Rückkehr Wilhelms das Leben zu nehmen. Lenores Mutter ist im Gegensatz zu Lenore streng religiös und weist eher eine konservative Denkweise auf.

Mir scheint es als ob sie die starken Gefühlsregungen Lenores über den Verlust Wilhelm nicht ganz nachvollziehen kann, was aber auch schon auf ihr reiferes Alter zurückzuführen sein könnte. Sie sieht die Ehe meiner Meinung nach auch eher als eine Absicherung für die Frau. Dies wird deutlich, als sie versucht Lenore von ihm abzubringen und Spekulationen in Bezug auf Ehebruch aufwirft. Sie ist ohne Frage am Wohlbefinden ihrer Tochter interessiert und somit versucht sie Lenore durch den Glauben auf den richtigen Weg zu führen. Ihrer Meinung nach ist jegliche Schicksalsfügung Gottes Wille und jeglicher Schmerz, den man hat, kann durch das Lesen in der Bibel gelindert werden. Der Konflikt zwischen den beiden kann nicht überwunden werden.

Lenores Ende, ihr früher Tod, zeigt sehr deutlich, dass in dieser Ballade vor allem die Abkehr vom Glauben kritisiert wird. Außerdem wird in der Person der Lenore sehr deutlich in welcher Situation sich viele auch partiell sehr junge Frauen befanden, die aufgrund von Kriegen zu Witwen wurden. Dies waren durchaus keine Einzelfälle. Sie hatten nicht nur mit großer Trauer und Verzweiflung zu tun, oft war es auch so, dass sie keine neuen Partner mehr fanden. Jedoch waren sie auf finanzielle Mittel angewiesen und da sich vorher zumeist die Männer um die finanzielle Versorgung der Familie kümmerten, traten zu Hauf eben auch Geldprobleme auf, zumal ja noch hinzukommt, dass vielleicht sogar noch Kinder vorhanden waren.

Bürgers Ballade zeigt eigentlich eine sehr zwiespältige Atmosphäre auf. Zum einen wirkt alles sehr „düster“, was auf den Ritt durch die Nacht, das Erwähnen von Ausdrücken wie „Tod“ und „Gräber“ oder die spätere äußere Wandlung „Wilhelms“ zurückzuführen ist.

Auf der anderen Seite steht immer Lenore, die unberührt von alldem wirkt. Sie scheint verschwunden in ihrer Gefühlswelt zu sein, voller Vorfreude auf die Hochzeitsnacht und einfach nur glücklich ganz dicht bei ihrem „wiedergekehrten Verlobten“ zu sein.

Sie ist ganz ruhig und quasi völlig unbeeindruckt von den „düsteren“ Einflüssen. Sie fühlt sich vollkommen sicher und zeigt bis zum Schluss keinerlei Angst.

Um dem Text die eben angesprochene Wirkung zu verleihen verwendet Gottfried August Bürger zahlreiche sprachliche Mittel. Es tritt wörtliche Rede auf, wofür „O weh! Lass ruhn die Toten!“ ein Beispiel ist. Interjektionen unterstreichen die Dynamik des Rittes. Deutlich erkennbar ist dies z.B. an der Textstelle „Und hurre, hurre, hop, hop, hop!“.

In den Strophen verwendet Bürger zunächst Kreuzreim, auf den sich dann der Paarreim anschließt. Es finden sich Aneinanderreihungen von ausdrucksstarken Verben, wie u.a. „Schön Liebchen schürzte, sprang und schwang...“.

Desweiteren treten zahlreiche Ausrufe und Fragen auf. „Hallo, Hallo! Tu auf mein Kind!“ oder „Ach, Wilhelm, du? – So spät bei Nacht?“ wären Beispiele hierfür.

Im folgenden kann man am Auszug „Zerschlug den Busen, und zerrang die Hand, bis Sonnenuntergang,“ feststellen, dass teilweise auch eine metaphorische Sprache ihre Verwendung findet. Feststeht weiterhin, dass es sich in dieser Ballade auch um eine archaische Sprache handelt, was man an Beispielen wie „Mein Liebchen“ oder „frug“ festmachen kann. Das Aussehen des Todes beschreibt er mit zwei Synonymen, nämlich „Stundenglas und Hippe“, was soviel bedeutet wie Sanduhr und sichelförmiges Messer.

Immer wieder gibt und gab das Gedicht von Bürger Anlass für unterschiedlichste Interpretationen.

Leonore Kain Kloock meint, dass „Lenore“ Elemente einer Sozialballade und einer Naturballade in sich vereint. Sozialballade deshalb weil die Handlung nach Kain Kloock doch recht deutlich die Frauenschicksale in Kriegszeiten verdeutlicht und damit auch den Krieg bzw. die Inszenierung der Kriege durch die absoluten Herrscher kritisiert. Außerdem ist Kain Kloock der Auffassung, dass in „Lenore“ ein Protest gegen die Kirche herausklingt. Die Kirche und die Bibel spenden nicht den gewünschten Trost, der es einem leichter macht über den Verlust eines geliebten Menschen hinwegzukommen. Elemente der Naturballade finden sich, laut Kain Kloock, in Bürgers Ballade ebenfalls wieder. Hiermit sind vor allem der „magische“ Einbezug der Natur ins Geschehen und die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber dem Schicksal gemeint. Die düstere Natur bei Nacht spiegelt in gewisser Weise Lenores Schicksal wieder, nämlich ihren bevorstehenden Tod. Desweiteren kann sie als Mensch dem Tod auch nicht entfliehen. Die am Schluß auftretenden Geister spielen nach Kain Kloock eine Mittlerrolle zwischen Kirche und Heidentum, da sie ja zum einen indirekt sagen, dass es gerecht war, dass Lenore wegen Gotteslästerung den Tod fand, was der Vers „Mit Gott im Himmel hadre nicht! Des Leibes bist du ledig;“ zeigt. Andererseits klingt hintergründig im Ausspruch „Gott sei deiner Seele gnädig!“ heraus, dass sie auch Mitleidn für sie empfinden.

Lenore ist eine Sagenfigur aus einem alten Volkslied. Sie ist eine zeitgenössische Gestalt und das Volk kann sich somit mit ihrem Schicksal identifizieren.

Leonore Kain Kloock hat partiell Recht, wenn sie sagt, dass in der Ballade eine Kritik am Krieg und an seinen Folgen angeführt wird, aber darin liegt sicherlich nicht Bürgers Hauptabsicht. Bürger wollte seiner Zeit mit diesem Text sicher nicht in dem Sinne eine Sozialballade verfassen, die die sozialen Verhältnisse in solchem Maße in Frage stellt.

Auch dem Protest am Glauben kann man nur teilweise zustimmen, da Lenore ja am Ende für ihre Ungläubigkeit oder Gottesfrevelung bestraft wird. Vielleicht könnte man es als Vorschlag für eine Reformierung des Glaubens verstehen, da ja angeführt wird, dass man im heiligen Sakrament und bei Gott keinen ausreichenden Trost bei seelischem Leid mehr findet.

Kain Kloock hat aber sicher Recht, wenn sie sagt, dass Lenores Person eine Identifikation mit dem einfachen Volk möglich macht, zumal die Ballade auch in einer volkstümlichen Sprache verfasst ist und Lenore eine Person aus dem einfachen Volk darstellt.

Winfried Freund äußert, ähnlich wie Kain Kloock, dass in „Lenore“ die Auswirkungen des Krieges und sein zerstörender Einfluss deutlich werden. Er ist der Meinung, dass dies die Ursachen für Lenores gesamtes Auftreten sind. Der Verlust des Geliebten durch den Krieg bringt Lenore zur Kritik an der Staatspolitik u. am Kirchenglauben. Sie richtet sich also gegen die Sinnlosigkeit des Krieges und gegen den Glauben, der besagt, dass Entsagungen im Diesseits zu Belohnungen im Jenseits führen. Hiermit ist gemeint, dass Lenore nicht mehr ohne Wilhelm leben kann, sie kann nicht auf ihn verzichten und kein Glaube und kein Gott kann ihr ihren Verlobten ersetzen. Die Kritik an der Religion führt nach Freund zu einer Umdeutung von Himmel und Hölle. Himmel im Sinne von Lenores Liebesverlangen und Hölle im Sinne der Entsagung und Enttäuschung. Freund äußert, dass Lenore der neuen Generation zuzuordnen ist, was sich in ihrer Haltung zur Religion und zu Gefühlen wiederspiegelt.

Die Mutter hingegen ist der Elterngeneration zuzuordnen. Sie ist eher konservativ und im Gegensatz zu Lenore streng religiös. Auch ihre Einstellung zur Liebe unterscheidet sich deutlich von der Lenores´. Die Mutter kann die ausgeprägten Gefühle, die sie nach Wilhelms ausbleibender Rückkehr noch für ihn hegt, nicht nachvollziehen.

ähnlich wie bei Kain Kloock setzt also auch Freund die Schwerpunkte seiner Interpretation auf die Kritik am Krieg und an der Kirche. Dieser Ansatz ist zwar wiederum richtig, aber genauso wie bei Kain Kloock kommt er in der Ballade nur hintergründig zum Ausdruck.

Anders ist dies bei Albrecht Schöne, der die Unbedingtheit der Liebe Lenores in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Diese Unbedingtheit stürzt sie in eine tragische

Verfehlung. Sie ist nicht Wilhelm, ihrem Geliebten gefolgt, sondern dem Tod.

Nach Schöne kommt in diesem Gedicht keine harte Kritik an der zeitgenössischen Staatspolitik oder am Glauben zum Ausdruck, es wird, wie bereits angedeutet, lediglich gesagt, dass der alte Glaube realistisch gesehen nicht mehr genügt, um den Schmerz Lenores´

zu lindern. Also wird der Glaube weder verspottet, noch wird gesagt, dass er in dieser Form erhalten werden muss. Eine weitere These, die Schöne aufstellt, besagt, dass „Wilhelm“ in einer doppelten Dreieinigkeit dargestellt wird. Zum einen wird er als Wiedergängergeliebter, auferstandener Christus und Bräutigam dargestellt. Zum anderen zeigt er dann sein „wahres Gesicht“, in der Einigkeit zwischen den Toten, dem apokalyptischem Reiter und dem Tod.

Albrecht Schöne hat meiner Meinung nach, genau den Kerngedanken der Problematik herausgearbeitet. Das Nichtwahrnehmen der Gefahr, die „Naivität“ und der unvermeidliche Tod Lenores sind auf die Liebe zu ihrem Wilhelm zurückzuführen.

Die spekulative Kritik an sozialen Verhältnissen und an der Kirche ist nur nebensächlich.

Literaturhistorisch ist das Werk in die Epoche des „Sturm und Drang“ einzuordnen.

Dies ist zum einen auf die Entstehungszeit zurückzuführen, lässt sich aber auch an konkreten Merkmalen festmachen. In der Person der Leonore spiegelt sich die Auslebung der starken Gefühle, der Leidenschaft wieder, die diese Epoche kennzeichnen. Angedeutet wird in der Ballade auch indirekte Kritik am Absolutismus, was ebenfalls ein Charakteristikum für den „Sturm und Drang“ ist. Man kann auch sehen, dass Lenore zu Beginn der Handlung sehr selbstbewusst auftritt. Sie äußert in der Diskussion mit ihrer Mutter klar ihre Meinung und hat auch keine Skrupel Gott in Frage zu stellen. Diese Einstellung, dieses Selbstbewusstsein ist ebenfalls typisch für die angesprochene Epoche.

Gottfried August Bürgers Gedichte zählen zu den bekanntesten der „Genie - Periode“.

„Lenore“ war der eigentliche Beginn der Kunstballadendichtung, die die Tradition der Geisterballade in Deutschland begründete.

Durch den doch sehr eigenwilligen Handlungsverlauf des Strophengedichtes lässt „Lenore“ noch heute Spielraum für die unterschiedlichsten Deutungen, nicht zuletzt auch deswegen, weil das verwendete Thema bis in die heutige Zeit nachvollziehbar ist und Berührungspunkte zu aktuellen Befindlichkeiten bietet.

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